Phönizisch sei unser Verhältnis zu den Zahlen, sagte Wittekind liebenswürdig lächelnd, unser Wille und unsere erstaunliche Fähigkeit, jedes Lebensverhältnis, jeden Gedanken, jede Realität nur noch als Zahlenketten verstehen und darstellen zu wollen. Phönizisch sei unsere entschlossene Abkehr von der Produktion zugunsten des Handels als der vorherrschenden ökonomischen, politischen und wissenschaftlichen Aktivität. Selbst die Kunst hätten wir dem Handel dienstbar gemacht und sähen sie nur noch als Funktion des Handels. Phönizisch sei unser Verhältnis zum Raum: in den Metropolen gleichsam mit dem Rücken zum eigenen Land zu leben und in Frankfurt etwa nicht mit dem Spessart oder der Wetterau, sondern mit Tokio und New York befaßt zu sein, nicht mehr den eigenen Landraum, sondern die ferne Gegenküste im Blick habend. Phönizisch sei unsere neue Unfähigkeit zur Herstellung schöner Kunstwerke — er denke da an die wirklich grauenvollen Fetische und Ölgötzen der Phönizier, bei ihrem gleichzeitigen Sammeln alter und für sie exotischer Kunstwerke —, die Phönizier hätten wie wir kostbare griechische Statuen gekauft, mit denen sie ebenso wenig zu tun hatten wie wir. Ja, was noch? Die phönizische Religion, schließlich: Das Opfern der erstgeborenen Kinder für Moloch, dem entspreche unsere gesetzlich geförderte Praxis der Abtreibung.»Aber das kann man doch nicht vergleichen«, sagte Britta aus ihrem offenbar wirklich sehr leichten Schlaf heraus.
«O doch, das kann man sehr gut vergleichen«, sagte ihr Freund ohne Eifer,»die Abtreibungen bei uns sind genau solche Opfer, die für eine glückliche und wohlhabende Zukunft dargebracht werden.«
«Haben Sie Kinder?«fragte Hans unversehens. Er hätte am liebsten nichts dergleichen gesagt, aber jetzt war es heraus.
«Nein«, antwortete Wittekind und seine Augen blitzten heiter:»Wir sind glücklich und wohlhabend.«
Britta verließ ihren Divan. Sie wirkte, mit gerunzelten Brauen, ärgerlich. Sie zog die Rolläden hinauf. Es war dunkel geworden. Am Himmel stand ein dick und kraftvoll leuchtender Halbmond, nahrhaft wie eine halbierte Torte.
«Beim nächsten Mal müssen Sie Ihre Frau mitbringen, sonst dürfen Sie nicht wiederkommen«, sagte sie sehr nachdrücklich, als Hans sich verabschiedete. Sie blickte ihm offen und fest ins Gesicht. Warum glaubte er nur, er könne diesen Blick nicht aushalten?
*
Auf der Treppe fiel ihm ein, daß er gar zu gern wieder einmal eine Zigarette rauchen würde. Für sein amerikanisches Büro wollte er sich das Rauchen eigentlich abgewöhnen, die Raucher wurden dort schief angesehen. So fand er seinen Weg, anstatt zu Ina zurückzukehren, noch einmal hinab zum Äthiopier. Der hatte seinen Hinterhofsalon wieder eröffnet, bediente zugleich aber auch noch zur Straße hinaus, dort allerdings ein ganz anderes Publikum, das sich neben den Herrschaften im Hof bei gesunder Selbsteinschätzung nicht hätte blicken lassen dürfen. Nur der Trinker war so dreist, sich aus der Vorderhausmannschaft in den exklusiven Hinterhof mitunter herüberspülen zu lassen. Als Hans den Hof betrat, fand er Souad, Barbara und einen dünnen jüngeren Mann mit langen blonden Haaren und haarreifartig auf den Kopf geschobener Sonnenbrille gesellig beisammensitzen. Alle drei telephonierten angelegentlich in unterschiedlichen Sprachen, Souad sprach arabisch, der blonde Jüngling mit dem Sonnenbrillendiadem französisch, Barbara spanisch. Sie am kürzesten. Souad schützte sich gegen die Abendkühle mit einem gelben Kaschmirpullover, der ihn sehr wichtig aussehen ließ, soviel runden Bauch hatte er zu umspannen, die Temperatur in der Steinwelt des Hinterhofs war aber nur um ein oder zwei Grad gesunken, die Mauern bewahrten die Hitze wie ein guter Ofen. Der Äthiopier hatte einen Kübel mit Eiswürfeln gebracht. Man trank heute kein Bier, sondern Wodka aus kleinen Fläschchen wie aus einem Kinderkaufladen. Barbara unterrichtete Hans über den jungen Blonden an ihrer Seite. Regelrecht vorstellen konnte sie ihn nicht, denn er ließ sich in seinem angelegentlichen Telephongespräch nicht unterbrechen. Er sei ihr Vetter, vielsprachig, in mindestens sechs Sprachen fließend zu Hause, wie sie selbst auch, eine einzigartige Begabung, zuletzt Koch in Gran Canaria, es sei eine Schande, daß der Mann nichts aus sich mache. Seit ihrer Scheidung hätten sie sich ein bißchen zusammengetan, er berate sie.
«Ich kaufe Rat«, sagte sie stolz. Sie lasse sich nichts schenken. Wie immer ihre übrigen Sprachkenntnisse aussahen, ihr Deutsch war lückenhaft, obwohl sie Deutsche war, aber heute sei ihr Deutsch oft einfach weg, sie vergesse schnell, was sie nicht täglich benötige.»Ich weiß englisch … ich weiß französisch, nur deutsch weiß ich nicht«, so lautete ihr heiteres Bekenntnis. Sie hatte sich einen Akzent zugelegt, der ihr grundsätzliches Ausländischsein noch betonte: So formte sie ein nuschelndes» Isch«, wenn sie von sich redete, in einem vibrierenden Zischlaut, der allen möglichen Sprachen hätte entstammen können. Lange sei sie weggewesen, jetzt gelte es wieder Fuß zu fassen. Man solle doch in dem Land leben, in dem man seine Interessen habe, nicht wahr? Ihr Vetter sei übrigens gegen die Rückkehr nach Deutschland und meckere den ganzen Tag. Dieses gefalle ihm nicht und jenes, aber Souad wolle sie um jeden Preis hier in Deutschland haben, und so sitze sie denn zwischen zwei Mühlsteinen. Dieser Platz schien ihr unbändiges Vergnügen zu bereiten. Ihre Löwenmähne war in der feuchten Hitze etwas zusammengefallen, viel Stroh umgab jetzt die Spitznase, aber den Wodka vertrug sie besser als die Männer, die beide zänkisch davon wurden. Souad sei wütend, weil sie ihn heute in der Stadt ertappt habe. In einem Café am Opernplatz habe er mit einer Dame gesessen, sehr weißhäutig, mit schönen Farben und ganz kleinem Doppelkinn, etwas spießig mit Silberschmuck.
«Souad, war das deine Frau?«Diese Frage genüge, daß er zu schimpfen anfange. Hans solle aufpassen. Sie führe es ihm gleich noch einmal vor, es funktioniere mit Sicherheit, es habe nämlich schon viermal funktioniert.
Ein Taxi hielt am Hoftor, und mit steifen Beinen entstieg ihm höchst behutsam Frau Mahmouni. Der Taxifahrer geleitete sie in den Hof. Sie trug ein Kleid von gleichem Schnitt wie das erste Mal, nur aus einer anderen Gardine gemacht. Der Taxifahrer blieb bei ihr sitzen. Er gehörte zu ihren Vasallen.
«Der Anblick dieser Telephonate unterhält mich«, sagte sie flüsternd zu Hans.»Ich möchte gern erleben, was die Herren für ein Gesicht machen, wenn sie erfahren, daß der ›Habsburger Hof‹ ihnen durch die Lappen gegangen ist. Diese Leute wissen und können alles mögliche, aber sie sind keine Geschäftsleute — jedenfalls nicht das, was ich darunter verstehe.«
VII
Der Taxifahrer war Türke, ein würdig aussehender Mann; sein grau-schwarzes Haar war knapp geschnitten, der Schnurrbart fein mit der Nagelschere gestutzt. Es sah aus, als werde Frau Mahmouni von ihrem Rechtsanwalt begleitet. Der Mann gesellte sich aber bald zu dem Äthiopier, der noch überwiegend in seinem Ausschank nach vorn hinaus beschäftigt war. Er war ein gastronomisches Naturtalent, ahnte selbst im angespannten Thekengeschäft, wann es im Hinterhof an etwas mangelte, und bekam zugleich eine gelassene Unterhaltung mit dem Taxifahrer hin. Er war eben ganz grundsätzlich in nichts involviert, in keines der Verhältnisse, die ihn umgaben, er war frei und profitierte von dieser Freiheit durch seine selbstverständliche Ruhe. Selbst zu Frau Mahmouni wahrte er Abstand, was aber leicht war, denn sie unterhielt eine geradezu romantische Beziehung zu Unabhängigkeit und Diskretion.
«Ich weiß nichts über ihn, und ich will auch nichts wissen«, sagte sie hoheitsvoll, in einem Ton freilich, als gebe es da allerhand zu wissen, wenn man seine Nase in die Geschäfte dieses Stehimbiß steckte.
«Männer sind unbegreiflich«, fuhr sie fort. War diese Einsicht das Ergebnis ihrer beiden Ehen oder hatte sie darüber schon vorher verfügt? Mit Frauen wolle sie sich allerdings noch viel weniger abgeben. Sie habe ihr Leben lang mit Männern gearbeitet, und ihr Vater habe ihr seinerzeit beim Abschied für immer, als er von allen Mitteln entblößt war — er erholte sich später etwas, aber gelangte nie mehr zu seinem alten Wohlstand —, eindringlich geraten:»Halte dich immer an Männer. Denk daran: Laß die Frauen ihrer Wege gehen, du bist eine Frau für Männer. «Und so sei es auch gekommen. Ihr Vater — schließlich auch ein Mann —, mit einem solchen Pech in allen seinen Unternehmungen, sei ihr geschäftlicher Lehrmeister gewesen. Nie wieder habe sie einen anderen gehabt. Vieles habe sie erlebt, sehr gutes und sehr schlimmes — aber immer mit Männern.