Statt weiter auf die Frage der Schwiegermutter einzugehen, sagte Hans:»Souad behauptet, der Hauswirt habe uns besucht.«
«Das hat er allerdings«, antwortete Ina. Schade, daß er nicht dabeigewesen sei. Sie sprach träumerisch, wie unter einem Eindruck, der zu bedeutend war, als daß sie nicht noch ein wenig bei ihm hätte verweilen wollen, bevor sie darüber berichtete. Es hatte geklingelt, als sie sich gerade die Haare trocknete. Hans sagte sich im stillen, daß es schwer für einen unangemeldeten Klingler sei, den Augenblick zu erwischen, in dem Ina sich nicht die Haare trocknete. Sie öffnete mit dem Frotteeturban auf dem Kopf, im Vertrauen, Hans sei von seinen Leuten dort unten zurückgekehrt. Vor der Tür stand aber ein fremder Mann, eine außergewöhnliche Erscheinung. Noch nie hatte sie einen so dicken Menschen aus der Nähe gesehen. Der Körper schwappte förmlich bei jeder Bewegung um den Kopf herum, der klein und schweißüberströmt aus dem Faß seines Leibes herauswuchs. Keinen Augenblick sei sie besorgt gewesen, denn die kleinen Augen dieses Mannes hatten einen flehenden, schüchternen Ausdruck. Obwohl sein Haar grau war, kam er ihr sehr jung vor, die Haut seiner Hand war weich und zart wie die eines Säuglings. Er stellte sich vor. Er heiße Sieger, Urban Sieger, und sei der Hausbesitzer.
«Ich wäre froh, wenn ich eintreten dürfte, denn häufig werde ich den Weg zu Ihnen hinauf nicht schaffen. Es geht mir nicht gut. «Als er sich auf das Sopha setzte, war es als nehme er auf einem Sessel Platz. Das Sopha stand in der richtigen Proportion zu ihm, schon wirkte er nicht mehr so monströs.
«Wie gut, daß wieder ein glückliches junges Paar hier wohnt«, sagte Sieger,»Sie sind doch verheiratet?«Es liege nun schon Jahre zurück, daß er hier oben gewohnt habe, damals sei er besser zu Fuß gewesen.»Auch ich war damals verheiratet und bin es noch, aber nicht mehr glücklich, alles ist zerbrochen. «Er habe damals die Wohnung, wie sie war, verlassen, mit allem, was darin stand, er habe nichts davon mehr ansehen können. Seine Frau habe mitgenommen, was sie gebrauchen konnte —»das war ihr gutes Recht. Alles was ich besaß, gehörte auch ihr — was in dieser Wohnung war, habe ich zur Disposition gestellt. «Es war, während er das Wort Disposition aussprach, als wollten seine kleinen Augen wegkippen und im Kopf versinken —»Ich hatte eine Puppe«, sagte Ina,»deren Glasaugen sich mitunter wegdrehten, es sah aus, als würde sie plötzlich blind, dann habe ich sie geschüttelt, und dann waren die Pupillen mit Iris wieder da, aber Herrn Sieger kann man nicht schütteln — er würde es nicht einmal merken, wenn man ihn schubste.«
Seitdem sei die Wohnung schon öfter vermietet worden, und jeder Mieter habe mitgenommen, was ihm gefiel — er komme eigentlich nur, um nachzusehen, was inzwischen noch übrig sei. Sieh da, der Schreibtisch seines Vaters — er zeigte auf das schwarze Pseudo-Barock-Ungetüm mit den gedrehten Säulenbeinen. An diesem Schreibtisch habe sein Vater immer gesessen, er sei mit diesem Schreibtisch verwachsen gewesen, eine Schreibtisch-Sphinx gleichsam. So schwer sei dieser Schreibtisch, daß er wohl bis zuletzt noch in dieser Wohnung zurückbleibe. Ina war bereit, alles vorzuzeigen, und das war auch notwendig, denn in dem neuen Zeug, das die Räume füllte, ging der Siegersche Hausrat unter.
«Und das ist auch noch da«, sagte er scheu und geradezu dankbar, als sie ihm die Radierung von Burg Eltz brachte, die sie im Badezimmer aufgehängt hatte. Sie stamme von seiner Tante, die Malerin gewesen sei, sich das allerdings auch habe leisten können, denn sie habe einen reichen Mann geheiratet. Mit der Malerei habe sie keinen rechten Erfolg gehabt —»sie war im Grunde keine Künstlerin«, sagte Herr Sieger. Wußte er, was zu einer veritablen Künstlerin gehörte, oder gab er das Urteil des Familienrates wieder?» Solche kleinen Sachen, das Illustrative, das lag ihr.«
«Wollen Sie das Bild nicht mitnehmen?«fragte Ina. Er wehrte heftig und ernsthaft ab. Nein, keinesfalls, er habe gegenwärtig — er seufzte — keine Verwendung dafür.
«Was wollen Sie schon für eine Verwendung haben für das kleine Bild?«fragte Ina,»man hängt es halt auf. Wenn es hier hängen kann, kann es doch auch bei Ihnen hängen — ich meine, aufhängen ist doch nicht dasselbe wie Verwendung haben?«Es war aber sehr freundlich, nicht belehrend gesagt, wie Hans sofort verstand, er kannte Inas Art, über ihr ungewohnte Redensarten zu stolpern und die Sache aufgeklärt wissen zu wollen.
«Vor dem Krieg war das eine gutbürgerliche Wohngegend, nicht elegant, das nicht, aber man konnte hier wohnen, meine Eltern waren respektable Leute«, sagte Sieger statt einer Antwort. Ihm ging es nicht darum, mit seiner Herkunft zu prunken, sondern sich erneut das rätselhafte Phänomen vor Augen zu führen, daß man in eiserner stabilitas loci verharren konnte, und doch um sich herum alles anders werden sah. Er bedauerte den Wandel nicht. Es beschäftigte ihn nur, wie dieses Haus die Bomben des Krieges, die um den Bahnhof herum besonders dicht gefallen waren, überstehen konnte, nur um dann, den Siebenschläfern vergleichbar, die das Wüten des Tyrannen verschlafen hatten, in einer anderen Welt zu erwachen.
Ob sie gestatte, daß er den kleinen Raum neben der Küche noch einmal betrachte? Damit seien besondere Erinnerungen verbunden. Als er aufstand war es, als rolle er vom Sopha herunter. Die alte Beobachtung über die Behendigkeit der Dicken, hier bestätigte sie sich. Er ging Ina voran, bei jedem Schritt ließ er den Boden leise erzittern. Sie betrachtete seine Hose.»Wir beide hätten in dieser Hose wie in einem großen Schlafsack wohnen können, jeder in einem Hosenbein. «Sieger schob sich beim Gehen wie ein Automat voran, der Schritt des linken Beines wurde von dem Schwung der linken Schulter, der des rechten Beines mit dem Schwung der rechten Schulter vorangetrieben, so sah das aus. Das weiße Hemd, ein Zelt, klebte an seinem Rücken und ließ den Abdruck des Unterhemdes sehen. Er nahm nicht zur Kenntnis, was da alles neu angeschafft und renoviert worden war. Ihn bewegte nur, was er schon kannte. Die Kammer neben der Küche gehörte zu den Vorteilen der Wohnung. Sie war geräumig mit umlaufenden weißen Regalen, die jetzt frisch gestrichen waren. Solche Nebengelasse gibt es in neuen Wohnungen nicht mehr, sie machen solch eine Etage aber erst bewohnbar. Vieles kann in einer solchen Kammer verschwinden. Viel war daraus verschwunden.
«Meine Frau hatte und hat wohl immer noch eine Leidenschaft für Schuhe«, sagte Herr Sieger. Es sei kaum ein Tag ohne den Kauf neuer Schuhe vergangen. Überwiegend seien die Schuhe nicht teuer gewesen. Das klang geradezu beschwörend, er wollte keinen Vorwurf anklingen lassen, er gönnte ihr diese Sammelwut. Sie habe schmale und sehr schöne, aber vergleichsweise lange Füße, das Wort groß vermeide er bewußt, es vermittle einen falschen Eindruck. Für diese Füße sei es nicht leicht gewesen, Schuhe zu finden. Das Sammeln habe mit der Gewohnheit begonnen, jedes Paar Schuhe, das ihr paßte, zu kaufen. Denn sie habe stets befürchten müssen, nicht so schnell wieder passende Schuhe zu finden. So rar seien Schuhe dieser Größe dann aber auch wieder nicht gewesen. Viele habe sie nur wegen der Größe gekauft und dann gar nicht getragen, weil sie ihr nicht gefielen. Waren die Schuhe im Haus, verfuhr sie rücksichtslos mit ihnen und warf sie einfach in diese Kammer. Schließlich habe sie nur mit Mühe noch zwei passende Schuhe zusammenstellen können, vom Betreten der Kammer war schon gar keine Rede mehr. Und da habe er sich einen Tag lang darangemacht, die Kammer aufzuräumen und die Schuhe zu sortieren.