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«Ich habe hier auf den Knien gelegen«, sagte er und wagte Ina nicht anzusehen, so stark ergriff ihn die Erinnerung. Es war auch damals heiß, und die Luft war vom Geruch des Leders, des getragenen Leders erfüllt.»Ich weiß«, sagte Herr Sieger,»für Fremde hat die Vorstellung solchen warmen Ledergeruchs von getragenen Schuhen etwas Abstoßendes, und auch für mich war er teilweise abstoßend, aber auch anziehend. Es war ein sehr starkes und tiefes Erlebnis. Zum Schluß standen dreihundert Paar Schuhe hier aufgereiht wie die Soldaten — und doch muß damals etwas zerbrochen sein — bei ihr, als ich ihr die Kammer vorführte. Wir hatten uns gestritten, sie war ausgegangen, kehrte zurück, und ich zeigte ihr die Schuhkammer. Das war wohl ein Fehler.«

Dann entdeckte er auf dem Fensterbrett ein Glas voll von kleinen Geldstücken aus allen möglichen Ländern, wie man sie auf Reisen in den Hosentaschen sammelt und dann zu Hause irgendwo aufhebt in der Hoffnung, sie noch einmal brauchen zu können.

«Das ist immer noch da, keiner hat das bisher weggeworfen, wie seltsam«, sagte Sieger.»Sehen Sie? Penny, Franc, Lira— bei jeder Münze könnte ich Ihnen die dazugehörende Reise sagen. Welche Achtung die Leute doch vor kleinen Beträgen haben. Möbel hat man hier weggetragen, auch Bücher, aber diese Münzen stehen immer noch da und sind inzwischen überhaupt nichts mehr wert.«

«Wir haben schon welche dazugetan«, sagte Ina und zeigte ihm einen amerikanischen Cent. Herr Sieger begrüßte das. Aber dann wurde er verlegen und bat, eine ungewöhnliche Frage stellen zu dürfen.

«Haben Sie zufällig schon die Miete für diesen Monat bezahlt?«

Ina sagte:»Ja, natürlich, ich selbst habe die Überweisung geschrieben.«

«An wen, wenn ich fragen darf?«

«Wie es vereinbart ist: an Herrn Souad.«

Herr Sieger versank in Nachdenken und murmelte vor sich hin. Natürlich, so sei es schließlich vereinbart, es sei dann wohl in Ordnung so. Sei das Geld etwa nicht angekommen? Sicher sei das nie, sagte Herr Sieger, aber normalerweise komme es schon an, Herr Souad habe sich doch nicht beschwert.

«Sprechen Sie mit Herrn Souad«, das hatte Ina als Aufforderung gemeint, aber unversehens klang es unbestimmt, beinahe wie eine Frage. Nein, mit Souad werde er nicht sprechen, sagte Sieger bestimmt, keinesfalls. Und das, obwohl er gegenwärtig keinen Pfennig, nicht einen einzigen Pfennig besitze.

Ob sie ihm mit fünfzig Euro aushelfen dürfe, fragte Ina. Die Verblüffung hatte ihr diesen Vorschlag eingegeben. Herr Sieger drehte einen Augenblick die Augen weg, bekam sie aber wieder in die Gewalt, faßte Ina würdevoll wie noch an keinem Augenblick des Abends, ja geradezu streng ins Auge und sagte:»Ich würde dies Angebot gerne annehmen.«

VIII

Es war etwas geschehen, mit dem weder Hans noch Ina hatten rechnen können. Ein gesunder, junger Mensch stellt sich Veränderungen des Lebens stets als äußeres Ereignis vor: ein neuer Beruf, eine neue Liebe, ein großer Erfolg, neue Menschen, eine neue Stadt, ein neues Land. Wer klug ist, mag hier auch allfälliges Unglück in Rechnung ziehen, denn wir bewegen uns auf dünnem Eis, unsere Schritte erzeugen ein Knistern, das der Lebenserfahrene hören kann, der Bruch der Eisdecke eines Tages ist das zu Erwartende. Im Kleinen war das selbst dem glücksbegabten Hans so geschehen. Man zog sich sorgfältig an, um zu einer wichtigen Verabredung zu eilen, setzte sich aufs Fahrrad, sauste davon auf gewohnten Wegen, auf denen jeder Stein einem vertraut war, geriet bei dem Versuch, einem entgegenkommenden Auto auszuweichen, mit dem Vorderrad zu nah an den Bordstein, schlidderte die Kante entlang und flog schließlich über das Lenkrad hinweg auf den Asphalt. Die Hosen waren zerrissen, die Hände, die sich aufgestützt hatten, blutig verschrammt, das Knie tat weh, mußte durchleuchtet werden und war angebrochen. Die Verabredung fiel aus, die nächsten Tage verliefen völlig anders als geplant, das alles hatte sich in einer einzigen Sekunde entschieden. Ein philosophischer Augenblick war das, wenn man es recht bedachte und seine Schlüsse daraus zog. Solche Einbrüche hinzunehmen und gar anzunehmen und zu überwinden, wurde vom erwachsenen Menschen erwartet. Das Scheitern aller Pläne war immer mit einzurechnen.

Was aber geschah, wenn gar nichts Schlimmes geschah: niemand gestorben, kein Haus abgebrannt, keine Schulden und keine Krankheit, und das Leben, das weiterhin nicht aufhörte, sich wie vorgesehen und erhofft und angestrebt zu entwickeln, dabei unversehens eine neue Farbe annahm, einen unerwarteten Geruch, eine Eintrübung des Lichtes hinnehmen mußte, wenn die Luft dicker wurde und das Atmen zur Arbeit?

Ina dachte an Herrn Siegers Worte über sein Haus, das einem anderen Jahrhundert entstammte und sich nun in einer Welt befand, für die man es nicht geplant hatte. Ohne sich selbst verändert zu haben, war es plötzlich etwas Minderwertiges, Schäbiges geworden. Was ihr eigenes Befinden anging, das ließ sich gewiß nicht mit einem solchen Haus vergleichen, aber sie war durch Siegers Worte auf eine Spur gesetzt worden. Wie gut es ihr ging. Wie froh sie war, Hans geheiratet zu haben und mit ihm als seine Frau zu leben, was sie beide jahrelang angestrebt hatten — die Verlobungszeit zog sich auch deshalb so lange dahin, weil Ina ihre Mutter zunächst unbedingt im Guten bewegen wollte, die Zustimmung zu dieser Ehe zu geben, erst als das aussichtslos war, erklärte sie, Hans dennoch zu heiraten. Von diesem Tag an hatte Frau von Klein sofort alle Bedenken fallenlassen und sogar behauptet, sie sei von Anfang an für diese Ehe gewesen, aber die jungen Leute wüßten eben nie, was sie wollten. Wie sehr dieses Leben, das Ina jetzt führte, ihren Hoffnungen und Absichten entsprach, gerade auch, was die Zurückgezogenheit anging, die sich aus der Fremdheit der Stadt ergab; beide hatten sich vielfach versichert, wie sie sich danach sehnten, die Vielzahl der Leute loszuwerden, die Ansprüche an sie erheben durften. Wie zufrieden sie sein konnte mit dem Renovieren und dem Einkaufen für die Wohnung — all dies stand als unbestreitbares Glück vor ihren Augen.

Alles war, wie es sein sollte — und doch, alles war zugleich ungreifbar anders als erhofft und erwartet. Das Freudenfeuerchen, das immerfort gebrannt hatte, wenn sie zusammen waren, war erloschen. Aber wann genau? Erst bei der Rückkehr von der Italien-Reise mit Frau von Klein? Während dieser Reise? In den Tagen danach? Hatte dieses Erlöschen mit der Reise zu tun? Ina machte sich insgeheim Vorwürfe gereist zu sein. Sie sah jetzt, was ihre Mutter ihr da zugemutet hatte: Den jungen Ehemann allein zu lassen bei neuer Stelle und ohne Wohnung und sich dann bei der Rückkehr ins gemachte Nest zu setzen. Und wenn sie sich auch nicht in regelrechte Selbstanklagen hineinsteigerte, so suchte sie doch die Schuld bei sich. Hans warf sie nichts vor, er war wie zuvor, war verliebt und lächelte, wenn er sie sah, und war außerdem unerhört fleißig und geschickt, was die Bank anging. Nur daß sie inzwischen mit Bangigkeit zu bemerken meinte, daß die Veränderung, dies Unnennbare, das alles überschattete und matt machte, auch an ihm nicht vorüberging.

Eine Weile wiegte sie sich in der Hoffnung, daß Hans gar nichts wahrnahm von diesem über ihr hängenden großen Flügel, unter dem es dunkler war. Es tröstete sie und beruhigte sie, daß diese trübe Einfärbung offenbar kein objektives Ereignis war, sondern nur von ihr wahrgenommen werden konnte. Dann glaubte sie, sie selbst müsse nur einfach von ihrem Eindruck wegsehen, ihn unbeachtet lassen und so tun, als sei alles beim alten. Unversehens kam sie sich in ihrer Schauspielerei aber würdelos vor. Warum sollte sie Freude zeigen, wenn ihr danach nicht zumute war?

«Was hast du?«fragte Hans eines Nachts, als der Mond auf ihre Bettdecke schien, weil sie das Rouleau noch nicht heruntergezogen hatten. Ihre Antwort ist schon tausend Mal auf eine solche Frage gegeben worden:»Nichts«, aber sie fügte, nach einer Weile des Schweigens wenigstens hinzu:»Es hat nichts mit dir zu tun. «Da war es Hans nicht zu verdenken, wenn er die Ohren spitzte.