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Die Arbeit gegenwärtig sei sehr intensiv, sagte sie mit großem Ernst. Sie arbeite gegenwärtig mit Alexander Rutz — den Namen mußte man offenbar kennen —, und das sei eine Chance, aber auch eine harte Herausforderung. Sie habe keine große Rolle in diesem Stück, sie wolle gegenwärtig ganz bewußt keine große Rolle, aber Rutz arbeite aus ihrer kleinen Partie eine Miniatur heraus, die in ihrer Präzision beinahe zum Zentrum des Abends werde. Britta beschrieb die Rolle einer Frau, die von ihrem Liebhaber verlassen worden sei und nun vor Schmerz fürchten müsse, wahnsinnig zu werden. Wie aber lege Rutz dieses Wahnsinnigwerden an? Aus dem Text gehe so gut wie nichts hervor. Es schwinge mit, beim ersten Lesen aber entgehe einem der Wahnsinn, sie habe zunächst überhaupt nichts davon bemerkt.

«Die Frau hat verstanden, daß der einzige Mann, den sie je geliebt und dem sie fest vertraut hat, sie verrät und schon über alle Berge ist«— das sei die Situation. Und nun diese Delikatesse: In dieser Lage werde sie von einem Passanten nach dem Weg zum Bahnhof gefragt.

«Sie begreift: Diese Frage ist der ihr vom Schicksal zugeworfene Rettungsring. Diese Frage stammt aus einer Welt, in der man ihren Kummer und den erlittenen Verrat nicht kennt, in der es diese beiden sie bedrängenden Mächte gar nicht gibt. Während sie auf diese Frage antwortet, tritt sie, für die Dauer der Antwort, aus ihrer eigenen schrecklichen Realität hinaus und begibt sich in eine Wirklichkeit ohne Schmerz, in eine Sphäre radikaler Sachlichkeit, in der niemand leidet, in der es einzig um die Lösung der praktischen Frage geht, wie man am schnellsten zum Bahnhof kommt. «So habe Rutz ihr das in einem Privatissimum erklärt. Alle Kollegen hätten gewartet und gestaunt, was es da zu sprechen und zu arbeiten gebe für diese knappe Szene.

«Spiel sie alle an die Wand«, habe Rutz ihr zugeflüstert. Das sei allerdings seine Methode, dies Alle-gegeneinander-Aufhetzen, um die berühmte» Rutz-Hysterie «zu erzeugen, die tatsächlich etwas Einzigartiges sei, wenn man bereit war, sich darauf einzulassen. Und so hatte die Arbeit heute ausgesehen: In ihren betäubenden Schmerz, der wie ein Messer in ihrer Brust sitzt, mitten hinein fragt der bewußte Passant. Und nun beginnt sie, mit einer fanatischen Pedanterie den Weg zu erklären, zeigt den Weg mit einer besessenen Exaktheit, so daß alle förmlich spüren, wie sehr sie sich an dieses Stück Objektivität klammert.»Es muß deutlich werden, daß sie den Schmerz während der Erklärung tatsächlich für einen Augenblick vergißt. Die Stelle, wo das Messer sitzt, wird taub — für diesen Augenblick, in dem der Zuschauer versteht, wie es um sie bestellt ist.«

Es war, als sei bei der Probenarbeit auch ein Impuls für diesen Abend gegeben worden. Rutz konnte stolz sein, wie gut er sich verständlich gemacht hatte. Die ihr gestellte Aufgabe war allerdings schwer —»vermutlich unlösbar«, sagte Wittekind, der dem heftigen Redestrom unbewegt lauschte. Der lichte Sommerabend war unmerklich dunkler geworden. Jetzt war aus der blauen Stunde, die eine Weile gar nicht hatte weichen wollen und nur immer blauer wurde, doch noch eine wirkliche Dämmerung herausgekommen. Hans sah zu Wittekind hinüber, der sich wieder, wie schon das letzte Mal, auf einem Schattenplatz befand. Jetzt hatten die Schlagschatten ihm ein neues Gesicht aufgeschminkt. Es sah aus wie eine zu triumphierendem kaltem Hohn verzerrte Maske. Die Kerzen setzten den Augen ein diabolisches Glitzern auf. Merkte sonst niemand die Veränderung, die in ihm vorgegangen war? Britta war nach ihrer Privatvorführung wieder still geworden. Sie litt jetzt an der Verstimmung, die viele Schauspieler nach der Arbeit befällt. Sie haben ihr Bestes gegeben, aber wieviel davon über die Rampe gekommen ist, bleibt selbst nach freundlichem Applaus unklar. Als Hans und Ina aufbrachen, war die Verabschiedung dennoch herzlich.

Ehepaare, die sich auseinandergelebt haben, finden in gemeinsamem Spott über andere Leute oft noch ein Stückchen der alten Gemeinsamkeit zurück. Man hat einen Ton gemeinsam, man sieht Ähnliches und lacht über dasselbe. Unter dem Gesichtspunkt ehelicher Friedfertigkeit und des Festhaltens am gemeinsamen Leben ist der böswillige eheliche Nachklatsch moralisch durchaus zu rechtfertigen. Auch Ehefrieden hat eben einen Preis. Hans und Ina waren heute abend zum ersten Mal in der Verfassung, diesen Weg zu beschreiten, um wieder zueinander zu finden. Ina hatte den ganzen Abend geschwiegen, auch deshalb, weil niemand das Wort an sie richtete, aber dafür hatte sie gut zugehört.

«Plötzlich hatte ich das Gefühl, daß jedes einzelne Wort, das diese Frau sagte, gelogen war. Sie hat es so hinbekommen, daß alles, was sie sagte, falsch klang, auch ganz gleichgültiges Zeug. Zum Beispieclass="underline" ›Ich vertrage kein Olivenöl‹ oder ›Ich brauche zum Arbeiten eine Flasche Champagner‹ oder ›Ich möchte keine Hauptrolle spielen, ich bin noch nicht soweit‹ oder ›Wir freuen uns wahnsinnig, Sie zu sehen‹ oder ›Ich hasse Rom‹ oder ›Ich liebe Musik‹ — daß das alles ausgedachte Behauptungen sind, von denen das Gegenteil ganz genauso gestimmt oder auch nicht gestimmt hätte. Und du hast an ihren Lippen gehangen, aber der Mann ist nicht dumm, dem war das alles furchtbar peinlich.«

Hans bestritt, an Liliens Lippen gehangen zu haben, obwohl er genau das getan hatte, aber ohne ihr zuzuhören, nur indem er ihre Lippen in ihrem Klappauf-Klappzu beobachtete —»muschelrein «fiel ihm ein, wenn er an diese hellgrauen Lippen dachte, die ein zarter Speichelfilm opalisierend glänzen ließ, aber er lachte von Herzen, als Ina ihre Aufzählung brachte. Sie war unbestechlich gegenüber falschen Tönen, nur bei ihrer Mutter nicht, und doch steckte mütterliches Training in diesem arglos-unbestechlichen Hinhören. Ina ließ sich von ihm ein bißchen umarmen. Sie versöhnten sich auf Kosten der Wittekinds. Es trug zu Inas Befriedigung bei, daß sie schwören wollte, dort unten sei nach ihrem Verschwinden noch ein Streit losgebrochen. Sie meinte, im Schacht, auf den die Badezimmerfenster beider Wohnungen hinausgingen, einen scharfen Wortwechsel gehört zu haben.

IX

Heute nacht war es anders als gewohnt: Ina hatte sich kaum ausgestreckt und mit dem Leintuch zugedeckt, ein Geschenk aus den alten Aussteuerbeständen der Mutter, und tatsächlich war ein großes I unter kleinem fünfzackigen Adelskrönchen hineingestickt, da fielen ihr auch schon die Augen zu, während Hans, der sich zu ihr gedreht hatte, um, wie sie es zuvor immer getan hatten, sich gegenseitig in den Schlaf zu plaudern, allein im Zustand der Bewußtheit zurückblieb. Und so sehr er sich auch wünschte, daß der Schlaf ihn einholte und in die Arme nahm, es wurde nichts daraus. Er blieb hellwach. Zunächst war es die Enttäuschung, die ihn munter hielt. Hoffte er etwa, daß die zurückgekehrte gute Laune in Ina den Wunsch gefördert hätte, sich noch ein bißchen mit ihm zu beschäftigen? Jedes geübte Paar hat sein kleines Ritual in der Liebe. Bei diesen beiden kam die Leidenschaft nicht in Lüsternheit oder durch irgendwelche aufreizenden Manöver zustande, sondern spielerisch. Außenstehende, die es zum Glück nicht gab, hätten auch von Albernheit sprechen können. Die ging vor allem auf Inas Konto, die sich, obwohl Hans keineswegs ihr erster Liebhaber war, in der Vorstellung gefiel,»von diesen Dingen nicht viel zu verstehen «und auch nicht zu begreifen, was die Leute daran so wichtig fänden. Hierin hätte eine tüchtige Portion Heuchelei gelegen, wenn die angebliche Ahnungslosigkeit nicht in ihr Spiel eingebaut gewesen wäre. Von Hans’ Seite gehörte zum Ritual die Frage, ob» er ihr wehtue«, die nach Zögern verneint wurde. Daß es Hans nicht glücklich machte, Ina die Frage, ob er ihr» wehtue«, nun schon eine Weile nicht gestellt zu haben, darf man freilich annehmen. Ina schlief mit festen Zügen, aber die Hitze setzte ihr auch im Schlaf zu, und so schob sie das Leintuch weg. Ihre Schultern, immer noch leicht bronziert, und die weißen Brüste kamen aus dem Laken hervor. Zeit sie zu betrachten hatte Hans. Sie knirschte leise mit den Zähnen und runzelte die Brauen. Etwas Unerfreuliches begegnete ihr in dem nahen fernen Land, in das sie sich hatte hineingleiten lassen.