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Liebevolle, oder besser, begehrliche Gedanken, die aber nicht auf Erfüllung hoffen durften, galten ihrem Anblick, aber Gelegenheit, die letzten Stunden zu bedenken, gab es auf diese Weise gleichfalls. Hans staunte, wie unerwartet scharfsinnig Ina beobachtet hatte. Wie unversöhnlich kritisch sie war. Dabei hätte Britta eine Schwester von ihr sein können in dieser» Muschelreinheit«— da war es wieder, das seltsame Wort, aber Hans wollte etwas ganz Bestimmtes darunter verstehen: Das Muschelige sollte die Vorstellung eines reinen, dünnflüssigen, duftenden Speichels hervorrufen. Das Appetitlichste, was es für Hans überhaupt gab, sich in einen solchen reinen süßen Speichelmund zu versenken, das war der Gipfel seiner Wünsche.

Er konnte, wenn er sich aufrichtig Rechenschaft gab, auch gar nicht finden, daß Britta da nun unablässig» gelogen «habe, ohnehin ein viel zu starkes Wort, Ina war eben noch sehr jung, man konnte sagen, sie war von juvenilem Moralismus. Britta hatte ein wenig auf die Pauke gehauen. Sie war Gastgeberin und wollte die Gäste unterhalten. Bei einer Schauspielerin war es nicht mehr als recht und billig, wenn das dann bedeutete, daß die Gäste zu Publikum werden mußten. Schon deshalb war der ernste Begriff Lüge hier ganz fehl am Platze. Eine Schauspielerin log nie. Sie spielte ihre Rolle, und wenn man solches Theaterspielen im Privaten, nachdem der eigentliche Vorhang gefallen war, auch fragwürdig finden mochte, war es doch ein verzeihliches gesellschaftliches Delikt. Fragten sich die Wahrheitsfanatiker eigentlich zuweilen, was ihnen überhaupt den Anspruch auf wahrheitsgemäße Reden, wahrheitsgemäße Bekenntnisse gab? Warum sollte man denn verpflichtet sein, sich vor Fremden zu entblößen?

Er hatte über Inas Sammlung von aufgespießten Bemerkungen gelacht, aber er fühlte sich jetzt, nachdem sie ihn allein gelassen hatte, ein bißchen schlecht mit diesem Gelächter, als habe er damit einen Verrat verübt, der dazu noch gar nicht belohnt worden war.

Für Hans war die Treue zu Ina eine Selbstverständlichkeit. Er war keine frivole Natur. Auch wenn sich früher die Gelegenheit zu kleinen Abenteuern ergab, schenkte er seinen Damen immer reinen Wein ein, und empfand keine Freude daran, jemanden zu betrügen. In dieser Hinsicht hatte Frau von Klein schon recht mit ihrem Urteil, Hans sei» plain«, aber Ina sah diese Einfachheit als Vorteil und wollte gern in einfachen Verhältnissen leben und selbst auch einfach sein. Ina war eigentlich niemals Hansens Geliebte gewesen, in der vollen, berauschenden, sinnlichen Bedeutung dieses schönen alten Wortes. Es war da von Anfang an eine Art erotischer Geschwisterlichkeit zwischen ihnen, wie man sie vielleicht bei Völkern findet, in denen man die kleinen Buben und Mädchen lange vor der Geschlechtsreife miteinander verlobt und zusammen aufwachsen läßt, so daß sie sich, wenn der Augenblick der Hochzeit dann schließlich kommt, schon ihr ganzes Leben lang zu kennen meinen, weil sie zusammen sprechen gelernt und zusammen Versteck gespielt haben. Treue wird hier ein Lebensgesetz. Und obwohl Hans nicht mit Ina aufgewachsen war, sondern sie erst vor fünf Jahren kennengelernt hatte — der Entschluß zu heiraten war von beiden schon sehr schnell gefaßt worden, beinahe gleichzeitig, einen regelrechten Heiratsantrag hätte man historisch nicht destillieren können —, war ihm, als habe er sie schon immer gekannt. Eine Treulosigkeit war ihm dennoch anzulasten und keine kleine: die Treulosigkeit gegen die vielen Jahre vor Ina, die nun mit all ihren Begegnungen und Erlebnissen gar nichts mehr darstellen sollten.

Der Treue-Sockel — um es architektonisch zu sagen —, auf dem Hans mit Ina stand, war also äußert stabil fundamentiert, so felsenfest errichtet, daß er sich gar nichts dabei dachte, als er sich nun in Gedanken mit Britta beschäftigte. Wer die Untreue nicht kennt, vermag auch ihre ersten Anzeichen nicht wahrzunehmen. Er meinte sich keinen Fingerbreit von der neben ihm im Mondstrahl schlummernden, vom weißen Mondlicht gestreichelten und mit dem nackten Körper selbst in einen Mond verwandelten Ina, die schwach zu leuchten schien, zu entfernen, während er sich den Gedanken an Britta überließ. Dieses Mädchen hatte sich ihm heute abend so nachdrücklich und ungeschützt sichtbar gemacht, wie es nur eine Schauspielerin konnte, der es aus den Gesetzen ihrer Profession heraus verboten war, sich vor dem Publikum zu schonen. Freiwillig unsympathisch sein, war das nicht etwas sehr Tapferes?

Aber wußte Wittekind mit seinem schläfrigen Sarkasmus solche Tapferkeit überhaupt zu würdigen?

Es war so heiß, daß das Liegen Unbehagen bereitete. Er stand auf, um in der Küche Durchzug zu machen und sich an das offene Fenster zu stellen. Die Lähmung der hohen Temperatur hatte sich inzwischen auf die ganze Stadt gelegt. Selbst in der heruntergekühlten Bank ließ das Arbeitstempo nach. Die Leute kamen von einer heißen Nacht zermürbt und schweißgebadet ins Büro und spürten in sich die verbotene Sehnsucht nach einer langen Siesta. Viele nahmen Urlaub, und das behinderte die täglichen Vollzüge wohltuend. Hans holte eine Flasche gekühltes Mineralwasser aus dem Eisschrank, aber das war auf einmal zu kalt und schmerzte an den Zähnen und im Magen, auch hier war keine Erleichterung in Sicht.

Auf dem Fensterbrett stand das Glas voller Münzen, Herrn Siegers Reiseandenken, wie Hans jetzt wußte. Er setzte sich an den Küchentisch und leerte die angelaufenen Münzen aus. Wie Spielmarken rollten sie auf die Platte. Dazu könnte man sie vielleicht verwenden, dachte Hans, vielleicht fangen wir im Winter ja wieder das Kartenspielen an — gewiß nicht mit den Wittekinds, fügte er dann mit leichtem Bedauern hinzu, die spielten bestimmt nicht Karten. Darin bestand nämlich der eigentliche Vorbehalt Frau von Kleins gegen Intellektuelle: daß sie keine Karten spielten. Erst wenn man aufs Kartenspiel verzichtete, tat sich die Bedrohung durch das Gespräch ja auf.

Wie Sieger vor Ina nahm er sich jetzt die einzelnen Münzen vor. Es war auffällig, wie sehr die Fähigkeit der Medailleure mit den Jahrzehnten abgenommen hatte, das Rund einer Münze mit einem guten Relief zu füllen. Die besten Leute schienen noch in England zu arbeiten, auch die Nordamerikaner machten gute Reliefs, sie gruben die Münze regelrecht aus und ließen den Kopf in der Mitte schön plastisch stehen, aber das waren alte Entwürfe, erstaunlich, wie konservativ man in Nordamerika mit solchen öffentlichen Dokumenten war, in Europa wurde unablässig entworfen und geändert, als bleibe sonst die Uhr stehen. Hans sortierte die Münzen und baute Türmchen aus Pence und Peseten.»Dei gratia regina «und» Por la gracia de Dios Caudillo «wuchsen nebeneinander in die Höhe.

Aber was war das? In dem Haufen blinder Geldstücke funkelte es unversehens rotgolden. Ein Ehering, ein schmaler, innen mit verwischten Initialen und unlesbarem Datum gezeichneter Reif. Herr Sieger war schon ein seltener Patron. Gut versteckt war das schicksalsträchtige Ringlein gewesen. Wer sich nicht über das Glas und seinen Inhalt hermachte — und welcher vernünftige Mensch tat das schon —, der würde ihn nicht finden. Offenbar hatte Herr Sieger selbst vergessen, was er hier aufbewahrte. Oder lag in diesem auffälligen Verstreuen seines Eigentums eine Absicht? Oder hatte der letzte Mieter den Ring hier vergessen? War in dieser Wohnung gar eine Ehe auseinandergegangen? Hatte sich ein Mann oder eine Frau geweigert, den Ring zurückzunehmen? Hatte man sich beim Zerbrechen einer Ehe gewehrt, sie wie eine Gesellschaft bürgerlichen Rechts abzuwickeln? Hatte vielleicht jemand geglaubt, daß seine Ehe, solange der Ring auf Wanderschaft war, irgendwie fortbestand? Müßte man bei einer Scheidung die Eheringe nicht eigentlich zerschlagen und zerschmelzen?