Er füllte die Münzen wieder in das Glas und legte den Ring hinein, als es halbvoll war. Den Rest der Münzen ließ er aus der hohlen Hand darüber rieseln. Jetzt war der Ring wieder gut begraben.
Es war halb drei. Die Nacht dauerte noch lang. Er ging in das dunkle Wohnzimmer, öffnete alle Fenster und legte sich auf das Sopha. Wirklich erreichte ihn ein linder Hauch. Es gelang ihm, an gar nichts zu denken. Er sah mit offenen Augen ins Dunkel, durch das vereinzelte Autoscheinwerfer wanderten, die Zimmerdecke ins Licht hoben und sie dann wieder zurücksinken ließen. Hans erinnerte sich genau an die Geräusche: das ferne Brausen, die weit entfernte Sirene eines Krankenwagens, die dem Raum Tiefe gab, die Empfindung, unter einer riesigen Glocke zu sein. Und während er da lag und der Vorstellung der Glocke nachhing — das wußte er genau, daß er gerade das getan hatte —, hörte er plötzlich ganz in der Nähe eine ruhige helle Stimme ohne Aufregung und Nachdruck, mit sanfter Bestimmtheit seinen Namen sagen:»Hans. Hans.«
Er richtete sich auf. Es war ihm, als habe er die Stimme nah an seinem Ohr gehört. Eine helle Stimme — von einem Mann? einer Frau? einem Kind? — das wäre nicht zu sagen gewesen, es war diese Bestimmtheit, die im Vordergrund stand. Es war nicht eigentlich ein Ruf gewesen. Vielleicht wollte die Stimme sich nicht unmittelbar an ihn richten, vielleicht war dem Menschen, dem diese Stimme gehörte, nach langem Nachdenken der Name Hans eingefallen, und so sprach er ihn denn aus:»Hans. Hans.«, so war aus ruhigem Überlegen heraus sein Name gesprochen worden. Oder war die Stimme nur Einbildung? Kein Apparat hatte sie aufgezeichnet, und dennoch war sie dagewesen, unbezweifelbar, nah an seinem Ohr. Dies war von außen gekommen, das konnte er genau unterscheiden, dies war nicht ein Gedanke in seinem Kopf oder Herzen, sondern etwas von ihm Unabhängiges.
War Ina erwacht? Hatte sie zu ihm gesprochen? Schlaftrunken war die Stimme nicht gewesen, aber sie kam aus tiefer Ruhe. Gab es hier in der Nähe jemanden, der von einem Hans geträumt hatte und sich im Aufwachen seinen Traum bestätigte? Nur er selbst hatte nicht geträumt. Er stand auf und rührte sich eine Weile nicht. Er ging in den Korridor. War vielleicht unten im Badezimmer der Wittekinds von Hans gesprochen worden? Hatte eine Wärmeböe eine Stimme aus dem Hof oder von der Straße zu ihm hinaufgetragen?
Er steckte den Kopf aus dem Fenster. Tatsächlich, unten im Hinterhof war noch Licht. Der Äthiopier hatte dort eine Art Stehlampe herausgestellt. Es ging auch anderen Leuten wie Hans: an Schlaf war nicht zu denken. Er schlich sich ins Schlafzimmer und zog Hemd und Hose an. Aber noch während er sich anzog und als er dann im hallenden, rumpelnden Treppenhaus hinabstieg, war ihm klar, daß auch dann, wenn sich irgendeine natürliche Erklärung fand für diese Stimme, die» Hans. Hans. «gesagt hatte — und sei es Souad, der mit seinem weittragend hellen, heiseren Organ gerufen hätte, sei es Britta in ihrem Badezimmer, oder Ina, die im Schlaf sprach, das tat sie übrigens gelegentlich, aber murmelnd und unverständlich —, die eigentliche Bedeutung dieses Erlebnisses davon nicht berührt wurde.»Hans. Hans. «Das war eine Anrufung oder eine Ankündigung. Es bedeutete etwas allein auf ihn Bezogenes. Ein Blatt in seinem Lebensbuch wurde umgewendet. Meistens merkte man das erst viel später. Ihm aber war nun vergönnt gewesen, in diesem entscheidenden Augenblick anwesend zu sein.
Im Hof hielt die gewohnte Gesellschaft die Wacht. Barbara trug ein enges Oberteil mit dünnen Trägern. Sie hatte eine ganze Landschaft aus Schlüsselbeinlöchern und Gelenkkugeln, hartem Brustbein und Rippenansätzen freigelegt, die nicht einmal von der Löwenmähne magdalenenmäßig verhüllt werden durfte, denn das Haar war hochgesteckt, sie wollte im Nacken den Nachtwind fühlen. Der Vetter war rosa gekleidet, Polohemd und Jeans in abgestimmtem Ton, aber trotz dieser optimistischen Farbe gewohnt grämlich. Frau Mahmouni saß in einer Haltung im Klappstuhl, als seien ihre Beine von einem Rudel edler Windspiele umgeben, wie immer in ihrem ein für allemal für sie geschaffenen Seidencomplet, diesmal mit großen violetten Sommerblumen bedruckt, die ihre Gestalt noch zerbrechlicher erscheinen ließen. Es war gewiß nur der späten Stunde zu verdanken, daß alle Telephone ruhten. Auch mit anderen Zeitzonen wollte keiner der Anwesenden gegenwärtig in Verbindung treten. Hans wurde mit gedämpftem Zuspruch begrüßt. Er spitzte die Ohren. Glich eine der Stimmen, die da» Hans «sagten, jener einsamen aus seinem Wohnzimmer? Er kam zu keinem Ergebnis. Das war aber, wie gesagt, auch schon ohne Bedeutung. Souad musterte ihn mit gewohnt nacktem Blick, aber er war gerade in ein anderes wichtiges Geschäft vertieft und wollte sich Hans erst später vornehmen.
«Hören Sie mal zu«, sagte er deshalb, wie häufig im Befehlston,»das ist auch für Sie interessant. «Er hatte noch nicht von dem Versuch abgelassen, sich mit dem Vetter zu verbünden. Falsch war dieser Einfall nicht. Der Vetter war gegenwärtig der wichtigste Mensch in Barbaras Leben. Sie hatte noch niemals in ihrem Leben einen Tag allein zugebracht. Die Scheidung forderte ihr hier ein Äußerstes ab, denn ihr Ehemann ließ sie überwachen und hatte angekündigt, alle Zahlungen einzustellen, wenn sie sich einen neuen Freund nahm. Der Vetter war ihm vertraut, der hatte ihm schon lange auf der Tasche gelegen mit seinen mißglückten Restaurantgründungen, er machte sogar den Verbindungsmann, wenn nach ausgedehntem Zank am Telephon die Verbindung zwischen Mann und Frau für eine Weile abriß. Souad hatte nun schon eine Stunde damit zugebracht, dem Vetter ein marokkanisches Restaurant in der Nähe anzupreisen, das, weil es expandiere, einen Teilhaber benötige. Jetzt war er bei den Frauen angelangt, die dort bedienten.»Eine unschlagbare Mannschaft«, wie er wirklich sagte, ihm vollständig ergeben und auf Abruf für jeden seiner Wünsche bereit. Er selber rühre diese Frauen nicht an — niemals mit einer Marokkanerin, gelte für ihn.
«Ja, Souad ist brav«, sagte Barbara und tätschelte ihm die Knie.
«Aber für dich das Richtige«, sagte Souad, ohne diese Liebkosung zu beachten.»Die erste ist eine etwas herbe, vernünftige, eine nordische — helles Haar, graue Augen — Rif-Kabylin. Aus guter Familie, Vaters Tochter, eine Frau mit Festigkeit und Prinzipien. Schnelle, sachliche Bewegungen. Überhaupt keine Kellnerin, wenn du mich verstehst, keine Dienerin. Sie steht auf der Seite des Gastes, der Gast hat nie das Gefühl, daß ihm etwas verkauft wird, er wird beraten. Sie wirkt immer objektiv. Macht souveräne Unterhaltung, von gleich zu gleich, aber wohlerzogen, diskret. Keine Aggressionen, ein reifes, erwachsenes Mädchen, schöne gewölbte Stirn. Allerdings fromm, etwas plattfüßig ist sie auch, aber schnell. Für das Restaurant unersetzlich. «Die zweite sei eine Kokette, Ironische, sogar etwas Freche, aber auch unterwürfig. Tiefe Schatten unter den Augen, bereits etwas unfrisch — was er, Souad, aber schätze, die ganz und gar frischen Frauen verstünden noch nicht, worum es gehe. Hier stieß er den Vetter in das rosa Hemd, wo er den Brustkorb vermutete, denn der Vetter war klapperdürr, seine Kleider umflatterten ihn. Die Kokette kehre ihre Vertraulichkeiten etwas zu demonstrativ heraus, kichere spitz, schmolle, blinzle anzüglich, stelle alberne Fragen mit falsch unschuldigem Augenaufschlag. Der Teint sei eher dunkel. Eine gute und schnelle Arbeiterin, er rate aber dennoch ab. Die dritte passe in der Größe gut zu dem Vetter, eine Große, Langsame, Tragische. Die Wangen mollig, auch etwas talgig. Vielleicht sei die große Tragische unter ihrer Jellabah nicht ganz so gerade gewachsen, wahrscheinlich x-beinig, wenn er den Gang richtig deute. Die Unterlippe sei dick, an sich ein gutes Zeichen, aber sie habe da immer eine kleine rote Stelle. Ihre Bewegungen seien schön, vornehm, sie sei immer in eine feine Trauer getaucht. Sie arbeite gut, aber sie bediene wie eine Gedemütigte, eine Verschleppte, eigentlich zu Höherem Berufene. Eine Nachdenkliche, Sinnende. Natürlich kreisten die Gedanken dieser Frau nur um die Liebe. Neulich sei aber ihr Fuß entzündet gewesen, heldenhaft hinkend sei sie umhergegangen, ein Insekt habe sie gestochen.