Выбрать главу

«Was willst du damit sagen?«fragte Ina, und deutliche Ablehnung lag in ihrer Stimme. Er sei davon überzeugt, daß diese kindliche Vorstellung eine Realität berühre, man könne sich so etwas schließlich nicht ausdenken. Diese Realität sei die Erfahrung, daß die Gegenstände sich unsichtbar machen könnten — ob sie nun den Betrachter blendeten oder ob sie sich tatsächlich selbst unsichtbar machten — Erfahrungen des täglichen Lebens eines jeden Menschen, die allerdings einen tiefen Schacht hinab in die wahre Natur der Dingwelt gruben. Oder hätte sie noch nie erlebt, daß sie Schlüssel und Brieftasche verzweifelt in allen Winkeln suchte, während das Zeug die ganze Zeit vor ihrer Nase lag? Man müsse auch bedenken, daß der Mensch nur sehen könne, worauf er geistig eingestellt sei. Die Südseeforscher berichteten von einer abgelegenen Insel, deren Bewohner noch nie einen Ozeandampfer gesehen hatten, und die ihn folglich auch nicht sahen, als er in ihrer Bucht schwamm — er war gleichsam zu groß, um gesehen zu werden. Ein verwandtes Phänomen hatte sich womöglich heute auch bei ihr zugetragen: Sie sei nicht disponiert gewesen, Souads Waschanlage zu sehen — was er verstehe, denn Souad sei wirklich ein schmieriger Patron —, und so habe sie sie so lange nicht gesehen, bis sich die Wirklichkeit gegenüber ihrer seelischen Abneigung wieder durchsetzte.

«Ich finde Souad bei weitem nicht so unangenehm wie die Wittekinds«, sagte Ina,»und ich finde, daß du wie Wittekind sprichst, du ahmst ihn schon nach, und ich versichere dir, das paßt nicht zu dir. «Im Grunde sei hinter seinen an den Haaren herbeigezogenen Überlegungen und Abschweifungen, die allesamt ihr Erlebnis nicht wirklich beträfen, nur eines herauszuhören: Daß er ihr nicht glaube. Aber so mürrisch und ablehnend auch klang, was sie sagte, sie hatte sich doch beruhigt. Das haltlose Schluchzen, das ihre Miene in die einer fremden Frau verwandelte — und keiner hübschen —, lag nun weit hinter ihr, etwas Fremdes, an das sie sich kaum erinnerte.

Hans schlug vor, sie in ein Restaurant zu führen. Außer Butter, Honig und Brot wäre auch nicht viel im Haus gewesen. In dem polternden Treppenhaus dämpfte er seine Schritte, bis sie an der Wittekind-Wohnung vorübergekommen waren. Wir sind ja regelrecht belagert, dachte er, während er an der ausdruckslosen Tür des Paares vorüberschlich, und in die Sorge mischte sich auch schon etwas rechtschaffene Empörung, als hätten die Wittekinds die Pflicht gehabt, sich nach dem gestrigen Abend in Luft aufzulösen.

Hans hatte Inas Verwünschung der Wohnung nicht ungern gehört. Es war bei aller Improvisation zwar schon ein nettes Geld in die Herrichtung der Räume gesteckt worden, Ina versäumte keine Gelegenheit, etwas Notwendiges zu kaufen — was sie in den Kartons in Hamburg alles bereits besaßen —, und es hatte sich in wenigen Wochen angesammelt, was man schon einen ganzen Hausrat nennen durfte. Wer sich vom Prinzip des benediktinischen Mönchtums verabschiedet und Bett, Tisch, Stuhl und zwei Gewänder, dazu ein Messer, eine Gabel, einen Löffel und ein Mundtuch zum Leben nicht für ausreichend hält, der wird, auch wenn er arm ist, bald eine staunenswerte Fülle von Dingen besitzen, und zwar gerade als Armer, so will es ein höhnisches Paradox. So sind denn auch die verrückten Landstreicher, viele Frauen darunter, mit ihren prallgefüllten Tüten — die listigen unter ihnen haben einen Einkaufswagen aus dem Supermarkt an sich gebracht, was die Menge der mitgeführten Tüten freilich nur steigert — die wahren Realsymbole unserer Existenz. Wie sie schleppen wir eine Unzahl von Gegenständen durchs Leben und unterwerfen uns der Last, unablässig scheinbar dringend benötigtes Zeug anzuhäufen, es durchs Land zu fahren, es mit Mühe und Not unterzubringen und alle Lebenssorgen auf es zu verschwenden. Wenn Gerichtstag gehalten wird, etwa am Tag eines Umzugs oder einer Haushaltsauflösung, hebt sich für einen Augenblick die Verblendung, und der Irrsinn des staats- und wirtschaftserhaltenden Sammeltriebes wird sichtbar.

Aber Hans war großzügig und Ina nicht mittellos. Was Frau von Klein ihr überwies, wollte Hans nicht wissen, und er sollte es nach dem Willen seiner Schwiegermutter auch nicht. Sie war zwar jetzt zufrieden, ihre Tochter verheiratet zu haben, aber sie sah es als ihre Pflicht an, die Bande, in die sie eben noch eingewilligt hatte, kaum daß sie bestanden, allmählich auch wieder zu lockern. Hans empfand die Vorstellung, daß Ina eine neue Wohnung suchte, die ihr von vornherein und allein schon deswegen zusagen würde, weil sie es war, die sich für sie entschieden hatte, als glänzenden Ausweg aus der seit ihrer Rückkehr aus Italien so bedrückend gewordenen Verstimmung. Es sei offenbar auch der Hausbesitzer ein verdächtiger Vogel, sagte er, als sie vor ihrem Salat saßen, um Ina zu ermutigen.

Da widersprach sie ihm überraschend: Nein, keineswegs, Urban Sieger sei schätzenswert. Sie habe ihn geradezu gern und wolle ihn nach Möglichkeit nicht verletzen. Er sei offen zu ihr gewesen — hier verdunkelte sich ihr auf Hans gerichteter Blick, es gebe nicht viele Menschen, die so offen seien. Und er sei unglücklich, und sie vermute, daß er dieses Unglück nicht verdient habe. Wie es denn überhaupt mit dem Verdienen des Unglücks so eine Sache sei: Wer habe schließlich sein Unglück wirklich verdient? Wer mache sich schon klar, wie hoch die Rechnung sei, die uns für die kleinsten Unachtsamkeiten und Irrtümer ausgestellt werde? Längst Vergessenes müsse hart und unnachsichtig abgebüßt werden — so sei es doch. Ihre Augen füllten sich wieder mit Tränen. Sie saßen ein wenig abseits, da mochten die Tränen denn rollen, ohne Aufsehen bei den Nachbarn zu erregen, die diese Trauer eines schönen jungen Mädchens gewiß der Herzlosigkeit ihres Begleiters angelastet hätten.

*

Als habe Sieger dies Bekenntnis der Sympathie und des Mitgefühls mitbekommen — nach volkstümlicher Vorstellung klingt es einem in den Ohren, wenn weit entfernt lobend über einen gesprochen wird, und Sieger war von echt elephantenhafter Empfindlichkeit, so daß sich dies Klingen bei ihm am Ende wirklich ereignete —, stand er am anderen Tag wieder vor Inas Tür. Sie sah schon an dem ungeheuren Schatten auf dem Milchglas, wer geklingelt hatte. Wie Siegers Kopf auf den breiten Speck- und Wasserschultern saß, hatte sich ihr eingeprägt. Er war vom Treppensteigen so erschöpft, daß er schweigend und tief atmend vor ihr stand und nur den Zeigefinger hob, als wolle er sagen:»Aufgepaßt! Ich beginne zu sprechen, sowie ich in der Lage dazu bin.«

Er war wieder in weißem Hemd und schwarzer Hose, das schien seine einmal angenommene Tracht, im Winter kam dann wohl die schwarze Anzugsjacke hinzu. Als er eingetreten war und sich niedergelassen hatte, bat er um ein Glas Wasser. Aus einer kleinen Dose nahm er bunte Tabletten und warf sie sich in den geöffneten Mund. Er komme aus einem ihr wahrscheinlich absurd erscheinenden Grund, sagte er in der flehenden Höflichkeit, die ihm eigen war und mit der er Ina für sich eingenommen hatte. Er habe schließlich hier gelebt, zunächst mit seinen Eltern, dann nur mit der Mutter, dann ganz allein — und er bekenne, daß er diesen Tag herbeigesehnt habe —»Ich habe meine Eltern geliebt, und ich war ihr geliebter Sohn, und ich habe sie dennoch in Gedanken ermordet«— nicht anders dürfe man diesen Wunsch, hier einmal ganz allein zu leben, deuten — dies Alleinsein habe schließlich den Tod der Eltern vorausgesetzt — so werde man zum Gedankenmörder. Die bösen Wünsche gingen immer in Erfüllung — wisse sie das?