Ina wußte es nicht, aber es traf sie tief, sie würde sich das merken. Herr Sieger hatte keinen sichtbaren Hals. Das Fett war ihm bis zum Kinn gestiegen, und oben auf dem Schulterplateau rollte sein Köpfchen nun scheinbar lose hin und her. Er verband in seiner Erscheinung seltene Massen mit einer verblüffenden Zerbrechlichkeit. Ina kochte jetzt Tee. Es sei in der Hitze gut, etwas Warmes zu trinken, sagte sie und genoß es, diesem sie anrührenden Mann fürsorglich Belehrendes zu sagen, was sie allerdings nur nachschwatzte. Was bei Hitze gut sei, darüber hatte sie sich wie jeder gesunde junge Mensch noch nie den Kopf zerbrochen. Wenn Herr Sieger Inas schöne Tasse zum Mund hob, verschwand der Henkel vollständig, die Tasse sah aus wie ein Fingerhut.
Die ersehnte Einsamkeit sei ihm gewährt worden, sagte Herr Sieger, aber dann habe er auch den Sog kennengelernt, den diese Leere entwickelte und von dem er sich keine Vorstellung gemacht habe. Und dieser Sog habe eine Frau hier herauf zu ihm getragen. Das sei ein geradezu physikalischer Vorgang gewesen. Sie war älter als er, eine Frau von großen Erfahrungen und scharfsinnig, aber sie mußte unbedingt ihren Willen haben, was ihn aber gar nicht gestört habe, ihm sei es so unwichtig, seinen Willen zu haben, daß er oft daran zweifle, ob er überhaupt einen besitze. Der Gegensatz zwischen ihnen sei stark gewesen. Hier der scharfe Wille, dort vollkommene Willensschlaffheit — so drückte er selbst das aus —, hier die Fähigkeit zu gnadenlosem Haß, dort die Unfähigkeit zum Haß aus der Gleichgültigkeit heraus.»Ich würde nie behaupten, ich sei ein guter Mensch«, sagte Herr Sieger,»was bei mir wie Güte aussieht, ist nur Schwäche. Bei guten Menschen kommt das Gute aus der Stärke.«
Womit aber nicht gesagt werden solle, seine Frau mit ihrer Hassenskraft sei böse gewesen, nein, keinesfalls, nur unerhört verletzbar. Von ihrem ersten Ehemann hatte sie eine Stieftochter, der sie Schlimmes nachsagte —»Sie interessierte sich eben allzu leidenschaftlich für andere Menschen, das war ihr Fehler. Wer so genau hingucken will, muß sich auf das Fürchterlichste gefaßt machen. «Er vergesse nie, wie diese Stieftochter, die weit weg, gar nicht in Deutschland lebe — die es eigentlich schon beinahe gar nicht mehr gebe —, das Verbrechen begangen habe, seiner Frau eine Weihnachtskarte zu schicken, mit vorgedruckten Grüßen. Er habe sie mit dieser Karte in den Händen vorgefunden, und sie habe vor sich hingeflüstert:»Sie soll im Haus des Teufels kochen«, und dabei habe sie mit ihrem brennenden Blick den gedruckten Text studiert, als wolle sie ihn sich für die Ewigkeit ins Hirn prägen.
«Würden Sie sagen, daß Sie nicht zusammengepaßt haben?«fragte Ina, die ihm mit großen Augen lauschte. Was sie bedrückte — benennen hätte sie es ohnehin nicht können — war weggeflogen, während Sieger bei ihr war. Sie fühlte eine innere Saite schwingen, solange sie ihm zuhörte.
«Im Gegenteil«, sagte Sieger, als verrate er ein Geheimnis,»wir haben uns ergänzt. Ein gutes Paar soll zusammen entweder ein großes Ganzes ergeben oder sich gegenseitig aufheben zu Plus-Minus-Null — wie Sie es mathematisch lieber haben, ist Ihre Sache, aber beides ist richtig. Das große, runde Ganze ist für die anderen so undurchdringlich, daß es für die Außenwelt der Null schon nahekommt, die beiden sind für die restliche Gesellschaft nicht existent. Kurze Zeit haben wir das wahrscheinlich sogar erlebt. Ich habe sie gut gekannt, zu gut erkannt — ich habe sie erkannt. Ohne sie wäre ich nicht geworden, was ich jetzt bin. Ohne sie wäre ich nicht …«
Er brach ab, legte den kugelig beweglichen Kopf nicht ohne Mühe in die Säuglingshände — es kam mehr eine Geste dabei heraus als ein wirkliches Bedecken des Gesichtes, denn die Arme waren zu kurz für den dicken Leib —»…oh, wäre ich doch nur nicht«, seufzte er, indem er seinen Fragment gebliebenen Satz in eine neue, trostlose Richtung weiterentwickelte.
Ina verweilte bei dem Gedanken, daß ein so raumbeanspruchender Mensch von sich wünschen konnte, nicht zu sein. Wie verwundert müßte die Erde sein, die seine Last getragen hatte, sollte sein Wunsch in Erfüllung gehen. Es war wohl kaum mehr als ein Gedankenexperiment, zu dem Herr Sieger mit seinem selbstzerstörerischen Seufzer einlud. Nachdem es ihn in seiner Fülle nun einmal gab, werde man ihn sich nie wieder spurlos verschwunden denken können, zu diesem Schluß kam Ina.
Sieger faßte sich und begann wieder zu sprechen. In diesem restlosen Ineinanderaufgehen sei offenbar doch ein Rest übrig geblieben, der keine Entsprechung fand: bei ihr selbstverständlich nur, denn sie war die außergewöhnliche, die nach seinen Worten geradezu überlebensgroße Persönlichkeit. Sie hatte ihm eines Tages den Ehering vor die Füße geworfen. Er habe sich auf den Boden legen müssen, um ihn aufzuheben, aber erst, nachdem sie gegangen sei — er habe sie nicht noch mit dem Anblick einer solchen Geste belasten wollen.
Ina mußte das Schweigen, das sich ausbreitete, schließlich brechen, es ging über ihre Kraft. Sie brachte Zitroneneis aus dem Kühlschrank und hatte das Vergnügen, Herrn Sieger mit einem in seinen Händen winzig wirkenden Löffelchen dies Eis genießerisch löffeln zu sehen. Sie hatte das Richtige getroffen, etwas Süßes. Jetzt konnte man den Gesprächsgegenstand wechseln. Ob sich der Eingang der Miete inzwischen geklärt habe? Geklärt ja, sagte Herr Sieger, aber leider habe er nichts davon erhalten. Souad rücke einfach nichts heraus. Er habe ihn angerufen, aber Souad sei einfach zu abgelenkt.
Ina fragte, ob sie in Zukunft die Miete nicht lieber unmittelbar an Sieger schicken solle. Da wurde er ängstlich und aufgeregt: Nein, keinesfalls. Man solle an solche Dinge nicht rühren. Wenn Souad merke, daß das Geld nicht mehr komme, könne er sehr zornig werden —»und das ist auch für Sie nicht gut«.
Aber da sei etwas anderes, weswegen er sie heute störe, obwohl allein schon dieser Genuß, in der eigenen Wohnung, in der er soviel Schweres erlebt habe, nun ganz entspannt Eis zu essen, diesen Besuch mehr als rechtfertige. Er habe sich vorgenommen, seiner Frau den Ehering zurückzugeben — ohne große Worte. Sie selbst solle entscheiden, wie sie diese Handlung bewerte: als endgültigen Bruch oder als Wiederanknüpfung — beides könne in dieser Gabe gesehen werden, und er selbst werde sie in dieser Vieldeutigkeit auch belassen —»das ist das Ehrlichste so, denn ich weiß tatsächlich nicht, was ich will«. Nur stehe ihm nicht mehr vor Augen, wo er den Ring nach seinem Auszug aus der Wohnung bloß hingetan habe. Lange habe er gesucht, vergeblich. Da sei ihm in der letzten schlaflosen Nacht —»können Sie bei dieser Hitze schlafen?«— plötzlich die Eingebung zuteil geworden, der Ring könne in jenem Glas mit den Reisemünzen sein. Daß dieses Glas immer noch in dieser Wohnung herumstehe, sei an sich schon ein Wunder — warum kein zweites Wunder erwarten? Ob sie gestatte, daß er einmal nachsehe?
Ina stand sofort auf und holte das Glas aus der Küche. Auf dem Schreibtisch mit den Säulenbeinen leerte sie die Münzen aus. Sieger hatte sich erhoben und sah auf den staubigen Haufen. Mit den Fingerspitzen schob er die Münzen auseinander, bis keine mehr auf der anderen lag.
«Es ist eine Enttäuschung«, sagte er leise, fuhr dann aber mit einem Eifer fort, als müsse er sich selbst überreden:»Ja, es ist mehr: das Ende der Täuschung. Ich habe mich in meiner Nachtstunde nur allzu gern von der Täuschung umarmen lassen, aber der Tag läßt dies Gespenst zerflattern. Ich bin Ihnen unendlich dankbar, daß Sie mir Gewißheit in dieser Frage verschafft haben«— wenn er die Wahrheit gesprochen habe, als er ihr seine Willens- und Absichtslosigkeit gestand — und er sei davon überzeugt —, dann dürfe er jetzt nicht betrübt sein. Ein bestimmter Weg, der sich als Möglichkeit auftat, sei verschlossen. Es sei der nicht ihm bestimmte Weg. Mit solchen Reden wiegte und schob er sich dem Korridor entgegen. Er verließ Ina, indem er sie zärtlich, wie ihr vorkam, aus seinen kleinen Augen ansah. Sie stellte sich vor, daß in seinem Leib eine kleine hochbewegliche Seele wie ein Flaschenteufelchen eingesperrt war, die zwischen seinen Füßen und dem Kopf auf den sanftesten Druck hin auf- und abtanzte.