Mitten im Hochsommer ging Ina durch diese welkenden Alleen. Manche Bäume, die schon verstanden hatten, daß die Zeit für eine ruhige und angemessene Reifung ihrer Früchte nicht ausreichen würde, trieben mit der Kraft der Verzweiflung schon jetzt die Stachelkugeln hervor, die sonst erst im Oktober von den Zweigen auf die Straße fielen. Kümmerlich waren diese Stachelkugeln. Sie erreichten nicht die alte verheißungsvolle Prallheit, deren Aufplatzen dann die wie Mahagoni-Kommoden polierten Kastanien herausrollen ließen. Es lag sogar schon welkes Laub auf dem Pflaster, in den stilleren Straßen raschelte es schon unter Inas Schritten in den leichten Sandalen. Ina mochte den Buntsandstein nicht, aus dem hier viele Häuser gebaut waren. Er erschien ihr blutig-düster und gleichzeitig zu weich, schwammig, porig, wie Bimsstein. Noch war genügend Laub an den Bäumen, um den Straßen weiter Schatten zu spenden. Sie ging langsam und sah in die Wohnungen im Parterre hinein, soweit nicht die Rolläden herabgelassen waren. Hier schienen wohlhabende Leute zu wohnen. Man sah es an den Vorhängen und auch an kleinen blitzenden Reflexen aus dem Dunkel der Räume, die von einem Spiegel oder einem Deckenleuchter mit Glasprismen ausgingen.
Wäre ihr Leben ein anderes, wenn sie in dieser Straße gewohnt hätten? Aber das war nur ein flüchtiger Gedanke. Zwischen zwei Sandsteintorpfosten stand das schwere eiserne Gartentor offen. Sie ging hinein, den Gang mit wackligen Fliesen bis zum Hof, in dem eine mächtige Kastanie stand, von den Häusern ringsum geschützt und zugleich dazu getrieben, durch ein äußerstes Wachstum doch noch ans Licht zu gelangen. Dieser bevorzugte Baum mußte dafür aber auch früher sein Laub verlieren als die Bäume auf der Straße, die der Zugluft ausgesetzt waren und etwas mehr Widerstandskraft entwickelten. Ina stand vor einer haushohen Kaskade aus braun-verkrümmtem Laub. Der Sandkasten, der zwischen die hohen Wurzeln des Baumes gesetzt war, hatte sich schon ganz mit welken Blättern gefüllt. Sie verließ den Hof und wanderte die Straße entlang. In den Gartenlokalen, die hier und da ihre Schirme aufgespannt hatten, saß niemand. Die Leute hatten die Lust am Sommer und am Draußensitzen verloren und verkrochen sich, wenn sie überhaupt in der Stadt geblieben waren, in ihren kühleren Wohnungen.
Ina lief weiter, ohne Plan und längst nicht mehr wissend, wo sie sich befand. Sie gewann eine Anhöhe und blickte auf die ferne Innenstadt hinab, die Hochhäuser der Banken schienen von hier aus gesehen in einem Sumpf zu stecken. In einem dieser Häuser saß Hans hinter Glas, von gekühlter Luft umweht, mit Gedanken befaßt, die nicht die ihren waren. Drehte man sich um, offenbarte die scheinbar endlose Stadt endlich ihre Grenze. Die sanften Taunushügel lagerten sich hellgrau in einem Hitzedunst, der sie zur bloßen Silhouette, zum Pinselstrich einer japanischen Tuschezeichnung werden ließ. Wer weiter in die Richtung dieser Berge lief, würde sie freilich zunächst wieder verlieren, denn bevor man sie erreichte, war noch ein breiter Gürtel Siedlungsdickicht, Vorstadtwüstenei zu überwinden.
Eine junge Frau kam ihr entgegen, sehr weißhäutig an den nackten Armen und Beinen, in häßlichen Shorts, schlaffem Hemdchen und mit einem strohgestrickten Hut auf dem Kopf. Sie trug ein kleines Kind auf dem Arm, ein anderes lief an ihrer Seite, in der freien Hand hielt sie einen langen, dünnen Stab, mit dem sie die Straße vorsichtig auf Hindernisse abtastete. Sie war blind, bewegte sich aber vollständig sicher und bedurfte noch nicht einmal der Hilfe der Kinder. Am Bordstein blieb sie stehen, hoch aufgerichtet, ganz aufs Hören eingestellt, das ihr das Sehen zu ersetzen hatte. Dann ließ sie den Stab wieder über den Asphalt scharren und folgte diesem Geräusch, das sie selbst hervorbrachte. Ina bestaunte die Geschicklichkeit dieser Frau, aber dann siegte der Zustand, in dem sie sich befand und der nichts Gelungenes und Geglücktes mehr gelten lassen wollte. Wie trist war die Blinde angezogen — nun, das waren viele, die sie auf ihrem Weg gesehen hatte, und aus dem Gleichgewicht mußte man deswegen nicht geraten. Aber das hier war etwas anderes, denn die Frau wußte nicht, welch entstellenden Hut sie trug, sie hatte die Farben ihrer Shorts nicht gesehen, und sie kannte auch nicht das Bild, das sie darin abgab, mit jener ausgestellten Kurzbeinigkeit und Breithüftigkeit, die sich mit anderen Kleidern hätte kaschieren lassen. Irgendwelche wohlmeinenden Menschen steckten die Frau in diese Sachen, von denen sie nur wahrnahm, daß sie etwas Wärmendes auf der Haut hatte. Wie eine Geschändete laufe die Blinde mit ihrem dummen Sommerhütchen durch die Stadt, so wollte Ina das jetzt sehen, wie eine Kuh, die man zum Almabtrieb geschmückt hat und die nicht versteht, was ihr mit diesem Schmuck geschieht. Und ging es ihr, Ina, denn so sehr viel anders als dieser Frau? Was sie auf dem Leibe trug, gewiß, das hatte sie selber ausgesucht, und das erschien jetzt als die allergleichgültigste Nebensache. Aber was alles andere anging, wußte und sah sie denn, wo sie ging und stand und welche Figur sie, von außen betrachtet, abgab? Das Leben in dieser Stadt mit Hans, was war das eigentlich? Hatte sie das etwa so gewollt wie die Blinde, die den Strickhut aufsetzte, den man für sie ausgesucht hatte?
«Das Leben«, dieses Wort hätte ihr nicht in den Sinn kommen dürfen. Eine Flut von Verwirrung und Selbstmitleid stieg in ihr auf, als sie» das Leben «dachte, und sie mußte sich auf ein Mäuerchen setzen und schluchzen. Tränen blieben freilich aus, es war ein knochentrockener Weinkrampf, der deshalb auch nichts löste, sondern wie ein allergischer Hustenanfall allmählich verebbte.
XV
Daß es Neumond war, die Nacht, in der das schwarze Loch des Weltalls den letzten feinen Rand des Mondes aufschluckte, mußte jedem entgehen, der damit die Vorstellung einer vollständigen Lichtlosigkeit verband, wie sie im Westen Deutschlands aber kaum mehr zu erleben ist, denn das echte Nachtschwarz ist aufgeweicht im Neonschein der Städte und der Dörfer, die längst Vorstadtcharakter angenommen haben. Zunächst lag auch noch der sommerliche Lichtzauber über der Stadt. Der todweiße Sonnenhimmel des Tages, der die Farben wegsaugte und nur das Hellgrau von muffigen Schwarzweißaufnahmen übrig ließ, verflüchtigte sich, der Himmel erstrahlte in reinem Hellblau und war nun als leuchtende Kuppel vorstellbar. Eine Stunde des Aufatmens und Genießens, für Ina jedoch eine Stunde der Wehmut und der Reue. Reue worüber? Was hatte sie in ihrem Leben zu bereuen? Welchen Menschen hatte sie verletzt, ohne seine Verzeihung erlangt zu haben, welche Chancen hatte sie nicht ergriffen, wo hatte sie den ihr vorgegebenen Weg verlassen? Hatte sie nicht mit mäßiger Disziplin, einfach aus ihrer Natur heraus, getan, was man von ihr erwarten durfte? Es war ihr jetzt, als hätte sie sich mit ihrer Heirat und dem ehelichen Leben danach schon viel zu weit von dem ihr angemessenen Lebenskreis entfernt, als bewege sie sich hier in fremden Zonen, für die sie nicht ausgerüstet sei, und als werde ihr selbst Hans hier ein Fremder. Wir lernen die Menschen eigentlich erst kennen, wenn wir ihnen in ihrem Milieu begegnen und plötzlich begreifen, daß sie mit ihren urpersönlichen Eigenschaften doch nur ein Mosaikstein sind und damit Teil eines großen Bildes. In Frankfurt war das Gegenteil eingetreten: Hans und Ina hatten die vertrauten Sphären verlassen, und es fiel Hans offenbar gar nicht schwer, sich anderswo einzufinden. Daß er mit Leuten wie den Wittekinds zurechtkam, war eine verstörende Entdeckung, die dazu aufforderte, ihn, den sie zu kennen meinte, vollkommen neu zu deuten. An die Wohnung würde sie sich nie gewöhnen. Sie hatte um diese Folge von Zimmern regelrecht geworben, hatte sie sich anverwandeln wollen, und jetzt sah sie, daß die Wohnung sich zu wehren begann und sie abschuppte wie eine abgestorbene Substanz. Wie anders war das Leben mit ihrer Mutter am Golf von Neapel gewesen, in einer Umgebung von lässigem Luxus, mit einem Tagesablauf, der von klösterlicher Präzision war und der außerhalb von Klöstern nur durchgehalten wird, wo die Notwendigkeit besteht, eine Riesenmenge Zeit totzuschlagen. Immer hatte man gerade nur eine knappe Stunde, um sich hinzulegen, weil man sich schon wieder für eine Mahlzeit oder einen Ausflug fertigmachen mußte. Frau von Klein schwamm gern und war deswegen in noch höherem Maße als sonst mit der Wiederherstellung ihrer Frisur beschäftigt — das Vernichten und Auftürmen des Haarhelms nahm viele Stunden in Anspruch, auch einer besonderen Lieblingsbeschäftigung, der Umlegung von Friseurterminen, konnte nachgegangen werden, das war meist Inas Aufgabe, die als wesentlichen Gewinn ihres Kunstgeschichtsstudiums ein recht flüssiges Italienisch vorweisen konnte. Es war lästig, wenn man es vor sich hatte, dies Umbestellen, aber welcher Friede ging in der Erinnerung davon aus! Unwichtiges mit wichtiger Miene betreiben zu dürfen und sich in einer Welt aufzuhalten, in der es andere als unwichtige Wichtigkeiten gar nicht gab, das erschien ihr jetzt als Inbegriff des Heimatgefühls. Und war die richtige Welt, die Welt eben, aus der sie stammte und in der sie jene Person geworden war, mit der sie es jetzt zu tun hatte, nicht nur durch ein Häutchen, hauchdünn wie das in der Eierschale, von ihr geschieden? So wie man war, wie man leben sollte — das war ja nicht verloren, das lockte im Reich des Greifbaren. Morgen schon, in jedem ihr beliebigen Augenblick, könnte sie in dies Reich wieder eintreten. Es würde zwar Ballast an ihr hängen, man würde ihr anmerken, daß sie einmal fort gewesen sei, aber sie würde gewiß schnell heilen.