Daß Frau von Klein den Menschen, die mit ihr lebten, gerade noch die Atemluft an eigenem Freiraum zugestand, das war vielleicht gut. Die Vortrefflichkeit solch lückenloser Eingespanntheit war als Schutz jedenfalls überhaupt nicht zu unterschätzen. Hans ahnte nicht einmal, was Schutz war. Wenn sie jetzt an ihn dachte, dann erschien er ihr wie in einer Traumsequenz: Sie versinkend in einem pechschwarzen Moor, er weit von ihr der roten Sonne entgegengehend, singend und pfeifend und taub für ihre Schreie, und, nachdem er sie schließlich gehört hatte, auf die für Träume bezeichnende Weise daran gehindert, zu ihr zu gelangen, mit den Füßen festgeklebt, ein Bild der Unfähigkeit und des ohnmächtigen Bedauerns.
Ina wanderte wieder stadteinwärts. Sie war in dem Alter, in dem ein verschwitztes junges Mädchen noch hübscher aussehen kann, als wenn es sorgfältig zurechtgemacht Kühle ausstrahlt, der Schweiß ist dann wie Tau auf dem Rosenblatt oder der Firnis, der den Ölfarben Frische und Tiefe verleiht. Aber sie sah sich ja nicht und fühlte sich schmutzig und elend, und tatsächlich hatte sie nicht einmal ein paar Münzen dabei, um sich an der Eisbude, an der sie vorbeikam, ein Zitroneneis zu kaufen. So weit war sie gelangt auf ihrer Lebensreise. Hier kannte sie keiner, keiner gab ihr, wie sie es gewohnt war, nur auf ihren Namen hin Kredit — daß dies auch bei den Hamburger Eisbuden selten sein würde, brauchte jetzt nicht mitbedacht zu werden.
Bei Ina wurden nun die Gedanken vom Gehen hervorgebracht. Wie sie voranschritt, leicht bergab inzwischen, an großen, vielbefahrenen Straßen entlang der Innenstadt zu, betrat sie auch in ihrer Phantasie neue Räume. Je mehr sie sich vertrauteren Regionen näherte — sie erkannte gelegentlich eine Kreuzung oder ein Gebäude —, desto schauriger erschien ihr die Vorstellung, nach Hause zurückzukehren. Sie mußte es, um an kaltes Wasser, um an ein Bad, an den Rest Zitroneneis im Eisschrank und an Geld zu gelangen. Auch ihr Telephon lag dort mit der eingespeicherten Nummer von Frau von Klein. Nur ein Knopfdruck genügte, und sie hätte die vertraute, leicht gereizte Damenstimme im Ohr, die Stimme einer Frau, die für das Telephon lebte, aber immer den Eindruck entstehen ließ, als sei sie bei bedeutenden Verrichtungen gestört worden.
Noch einmal jedoch dies Treppenhaus zu betreten, noch einmal mit Hans zu sprechen, noch einmal aus den Fenstern des Wohnzimmers auf die Nachbarstraßen zu blicken, das ging über Inas Kraft. Ihr Zustand fand jetzt den Durchbruch zu einer höheren Reinheit. Ihre Verzweiflung trat unverhüllt zutage. Sie bedurfte nicht mehr der Vorwände und Vorwürfe, sie erhob überhaupt keinen Vorwurf gegen irgendwen. Sie trauerte nicht um den Verlust idealer Zustände. Sie war als ganze Person zu einem in alle ihre Gefäße ausgegossenen explosiven Gefühl geworden. Ein Funken genügte, um es zu entzünden. Niemandem hätte sie diesen Zustand beschreiben dürfen, weil sie genau wußte, wie man sie zu beruhigen versuchen würde, mit welch erbärmlicher Hilflosigkeit, etwa von der Art: Es sei doch alles gar nicht so schlimm. Doch, es war schlimm, jetzt stand sie schon in Flammen.
Eine Frau mit dem muslimischen Kopftuch trat auf sie zu. Sie hielt einen Zettel in der Hand und fragte in mühevollem Deutsch nach dem Hauptbahnhof. Sie hatte sich das ihr unverständliche Wort nach dem eigenen Sprachgefühl zurecht geformt und sagte mehrfach» Happana«. Nachdem Ina den Zettel entziffert hatte, verstand sie schließlich. Die Frau war der ihr vom Schicksal in dieser Stunde der Not zugeworfene Strohhalm, und sie ergriff ihn mit einer Entschlossenheit, daß die Frau sie verwundert ansah.
Zum Hauptbahnhof hätte Ina von hier aus gefunden, freilich nicht auf dem kürzesten Weg. Das teilte sie der Frau jetzt auch mit. Sie wisse genau, wo der Hauptbahnhof liege, nur sei er nicht nah, sie schätze, daß die Frau mit ihrer großen Tasche mindestens dreißig oder gar fünfunddreißig Minuten für den Weg rechnen müsse. Möglicherweise gelinge es ihr auch unterwegs, den Umweg, den sie jetzt gewiesen werde, abzukürzen. Wichtig sei, sich zunächst geradeaus zu halten, über etwa drei oder vier Kreuzungen hinweg. Die Schwierigkeit beginne erst dann. Der Hauptbahnhof liege im Grunde parallel zu der Straße, auf der sie sich jetzt befänden. Die Aufgabe sei nun, sich auf der richtigen Höhe durch einige Querstraßen dem Hauptbahnhof seitlich anzunähern. Sehe man ihn vor sich liegen, könne man ihn aber nicht mehr verfehlen. Er sehe unverkennbar wie ein Hauptbahnhof aus.
Dies alles sagte sie, als sei ihrem Schweigen eine Schleuse geöffnet worden. Die Muslimin verstand kein einziges Wort, lauschte dem erhitzten Mädchen aber mit gerunzelter Stirn und stetem Nicken. Sie gingen sogar noch ein Stück zusammen, Ina half der Frau die Tasche tragen und sprach ohne Unterlaß, indem sie den Weg, den sie nahmen, zugleich beschrieb —»Wir gehen jetzt praktisch immer geradeaus«, sagte sie etwa —, und als sie sich trennten, war sie tatsächlich ruhiger geworden. Zwar spürte sie ein seelisches Zurückrinnen ins Dunkle, als sie wieder allein war, aber es kam ihr jetzt weicher, samtiger dort vor. Auch um sie herum war es nun Nacht geworden. Die Rücklichter der Autos leuchteten wie rote Grabkerzen auf einem abendlichen Friedhof, und der Anblick dieser roten Lämpchen tat ihr gut.
Zuhause war jeder Gedanke an ein schönes Bad und ein köstliches Eis vergessen, gerade daß sie sich am geöffneten Eisschrank ein Glas Mineralwasser eingoß, das sie aber schon nach zwei Schlucken wegschüttete. Eine erneuerte Rastlosigkeit beherrschte sie: Jetzt sofort aufbrechen und in derselben Nacht noch nach Hamburg fahren! Frau von Klein mußte schon gar nicht mehr angerufen werden, sie ahnte ohne Zweifel, daß ihre Tochter kam, und würde ohne Benachrichtigung den Weg zum Bahnhof finden. An Hans dachte sie gar nicht, der schien spurlos hinweggesunken.
«Hans hat damit nichts zu tun«, sagte sie dann plötzlich laut und war verwundert, die eigene Stimme zu hören. Er hatte nichts damit zu tun — womit, danach wurde schon überhaupt nicht mehr gefragt —, aber helfen konnte er eben auch nicht. Es ist für den weiteren Verlauf des Abends nicht unwichtig, daß Ina während dieses gesamten bedrückenden und letztlich ungeklärten Zustands vielleicht gelegentlich etwas ungeduldig und befremdet, aber nie feindselig an Hans dachte. Man muß dies im Gedächtnis behalten und darf auf keinen Fall Hansens Sicht der Ereignisse übernehmen: Er war im Schutz seines schlechten Gewissens wohlgeborgen vor dem Medusenanblick der Sinnlosigkeit.