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Ina begann zu packen, aber obwohl sie eine geübte Reisende war, gestaltete sich dies Geschäft jetzt kompliziert bis zur vollständigen Undurchführbarkeit. Taschen und Koffer wurden herbeigezerrt und lagen mit aufgerissenen Mäulern auf dem Bett, dann holte sie heraus, was in Kommoden und dem großen Wandschrank aufbewahrt wurde. Ein Kleiderhaufen türmte sich über den Koffern. Sie nahm eine Bluse weg und legte einen Pullover dazu. Sie trug einzelne Kleidungsstücke herum und ließ sie dann irgendwo fallen. In kurzer Zeit war der gesamte Fußboden des Schlafzimmers mit Kleidern bedeckt. Sie hüpfte barfuß in dem wild durcheinandergeworfenen Kleiderhaufen herum. Sie fühlte, daß es ihr besser ging.

*

Hans fand die Hinterhofgesellschaft diesmal erweitert vor. Zu der im Kunststoffklappstuhl königinnenhaft hingegossenen Frau Mahmouni — heute in einem mit Bambus und tropischen Schmetterlingen bedruckten Complet gewohnten Stils, nur die orangefarbenen Sandaletten, die viel von den verdrehten Füßen sehen ließen, stachen mit gleichsam eigener Leuchtkraft aus dem Ensemble hervor —, zu Barbara, die einen dünnen Safarianzug angelegt hatte und zu dem ganz in hellblau gekleideten Vetter, zu Souad, der mißtrauisch aufgeplustert wie ein großer Truthahn dasaß, hatte sich Herr Wittekind gesellt, aber nicht, wie sich schnell zeigte, um sich unterhalten zu lassen oder ein Publikum für seine Monologe zu finden, sondern um mit Souad, in der gewohnt lässigen Weise und betont friedlich, über dessen Abrechnungen zu verhandeln.

«Kommen Sie rüber in mein Büro«, sagte Souad gerade und wies in Richtung der Waschanlage.»Aber nicht morgen — übermorgen um fünf.«

«Keineswegs werde ich das tun«, antwortete Wittekind. Er sprach wie immer lächelnd und tat, als begreife er das Ganze als Spiel. Es sei schwer, bei Souad einen Termin zu bekommen, und er sei davon überzeugt, daß ihnen übermorgen um fünf ein brennendheißes Telephonat dazwischenkommen werde. Es ging um die Nebenkostenabrechnung —»Das dürfte auch Sie interessieren«, sagte Wittekind zu Hans, auf das Selbstverständlichste zum Sie zurückkehrend. Dieser Mann gehörte offenbar zu dem glücklichen Geschlecht, das keine Peinlichkeit kannte. Hier war der nicht so seltene Fall gegeben, daß eine Zurücknahme des Du, mit so leichter Hand bewältigt, eine Entspannung gewährte, die seine Beibehaltung nicht zugelassen hätte. Man konnte Dinge im allgemeinen nicht ungeschehen machen, das hatte Hans mit Schmerzen empfunden, aber wenn man sich zusammentat, konnte man es offenbar doch. Als Zeichen seiner Dankbarkeit setzte er eine geschäftsmäßig teilnehmende Miene auf. Souad sank in Verdrossenheit.

Man hielt es in diesem Haus wie in den meisten anderen Mietshäusern auch: Die Mieter leisteten einen monatlichen Vorschuß auf die Heizungskosten, die Versicherungen und was da sonst noch anfiel — erfahrungsgemäß viel — und erhielten am Jahresende eine Abrechnung über die Verwendung dieser Gelder, und dann war entweder noch zuzuzahlen, oder es mußte von den Vorschüssen etwas zurückerstattet werden.

«Wir warten seit zwei Jahren auf diese Abrechnungen«, sagte Wittekind und fügte scherzend hinzu, daß er vermute, die Verwaltung — das war Souad — hätte sich gewiß gemeldet, wenn sie mit dem Vorschuß nicht ausgekommen wäre —, aber da tiefes Schweigen herrsche, habe er die dringende Vermutung, daß im Gegenteil er etwas herauszubekommen habe. Souad fuhr auf und warf ihm einen anklagenden Blick zu, aber Wittekind gebot mit aufgehobener Hand Schweigen und fuhr fort, daß er um so mehr davon überzeugt sei, hier seien» Vorgänge«, wie er ironisch sagte, liegengeblieben, als auch Herr Sieger schon mehrfach bei ihm geklagt habe, überhaupt noch nie eine Abrechnung von Souad gesehen zu haben. Darauf solle es hier nicht ankommen — wieder erstickte er einen Einwurf Souads —, aber es unterfüttere doch seinen Verdacht.

«Also was machen wir?«Das war so nett und harmlos gefragt, daß Souad auf diesen Ton leicht hätte eingehen können. Statt dessen schwang er sich in die Pose des Strafverteidigers, richtete sich in seinem Klappstuhl auf und rief voller Empörung:»Warum sollte ich so etwas tun? Können Sie mir diese Frage beantworten? Warum?«Zur allgemeinen Überraschung, besonders Souads, ergriff aus ihrer Distanz nun Frau Mahmouni das Wort.

«Warum? Souad, das ist eine sinnlose Frage. Die Frage, warum ein Mensch dieses oder jenes tut, ist meist nicht befriedigend zu beantworten. Nicht einmal Vermögensinteressen geben hier Gewißheit. Oft handeln die Menschen nach ihren Interessen oder ihren vermeintlichen Interessen — sehr oft aber auch nicht. Es gibt für jede Handlung tausend Gründe; hoffnungslos, sie zu erforschen. Und außerdem sind viel mehr Menschen, als man glaubt, verrückt. Manche nur zeitweise, um es noch schwieriger zu machen. Sie werden verrückt, wie sie den Schnupfen bekommen, und werden die Verrücktheit wie den Schnupfen nach einer Weile wieder los. Also kein Warum. Eine ganz andere Frage ist, ob jemand imstande ist, dies oder das zu tun. Diese Frage ist schon sinnvoller. Und wenn ich mich frage, ob Sie imstande sind, Herrn Doktor Wittekind die Abrechnungen zu verweigern, ist die Antwort viel einfacher. Natürlich sind Sie dazu imstande, Souad.«

Sogar Barbara hatte bei dieser kleinen Rede aufgehört zu telephonieren, ihr Vetter freilich nicht, da hätte schon anderes geboten werden müssen. Am meisten wunderte sich Hans aber über Souad. Kein Aufschrei des Protestes von seiner Seite. Er saß brütend da wie ein Frosch, man sah geradezu seine Kehle pumpen. Frau Mahmouni sprach weiter.

«Herr Doktor Wittekind. Ich darf Ihnen mitteilen, daß ich ab heute die Verwaltung dieses Hauses wieder übernehme. Ich war mir mit meinem Mann über verschiedene Fragen nicht einig, aber das ist geklärt.«

«Und ich?«Souad sprach wie vom Donner gerührt, ungewohnt ausdruckslos, ja verhalten.

«Sie machen weiter die Waschanlage«, befahl Frau Mahmouni,»aber nur noch für zwei Monate. Es wird bald schon gar keine Waschanlage mehr geben. Die Waschanlage wird verschwinden. Dort drüben zieht ein großer pakistanischer Baumwollimport ein, der Kontrakt ist heute unterschrieben. Danach übernehmen Sie den ›Habsburger Hof‹. Mein Mann und ich haben uns entschlossen, unsere Interessen hier auf diesen Platz zu konzentrieren, um den Immobilienbesitz zu arrondieren.«

«Es ist auch von mir was drin, Souad«, zwitscherte Barbara. Souads langen leeren Blick hielt sie ohne Mühe aus.»Man muß bei Immobilien immer alles gut bedenken«, sagte sie in dem Bemühen, ihn an ihrer Zufriedenheit teilnehmen zu lassen,»eine gute Anlage ist halt immer viel Arbeit.«

Wer glaubte, nach solchen Eröffnungen werde der Kreis schnell auseinanderfliegen, hatte sich getäuscht. Vielleicht war es nur die nächtliche Hitze, die jeden von einer unnötigen Bewegung abhielt, bis auf den Äthiopier, dem sie nichts antat und der mit flinkem Blick darauf achtete, daß jeder eine Flasche hatte, jeder eine andere, wohlgemerkt. Die Unterhaltung floß leise dahin. Es war, als sei man dankbar, die neue Normalität gemeinsam einüben zu dürfen.

Plötzlich neigte Souad sich zu Hans und sagte mit hinaufweisendem Kopfnicken:»Deine Frau steht die ganze Zeit da am Fenster und schaut zu uns herab.«

Ina hatte tatsächlich die von ihr angerichtete Unordnung, die sie nicht mehr zu beherrschen vermochte, verlassen und war die Treppe hinabgestiegen. Beim letzten Fenster des Treppenhauses, unmittelbar über der Gesellschaft, blieb sie stehen, an den Rahmen gelehnt und die Leute dicht unter sich betrachtend. Von den Gesprächen drang manches zu ihr hinauf, wenngleich nicht alles. Eben hörte sie Wittekind mit leicht erhobener Stimme sagen:»Aber es kommt doch gar nicht darauf an, glücklich zu sein.«