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Er erwachte, als die Sonne am Himmel stand und so unverdrossen wie gestern auf die Stadt herunterbrannte. Das Fenster ging auf einen öden Hof, in dem nur ein großer Abfallbehälter stand. Es war so still wie tief in einem dichten Wald. Ein Vogel zwitscherte. Auf manche Menschen hat das Vogelzwitschern eine tröstliche und ermutigende Wirkung. Der junge Mann hatte das Vogelzwitschern bisher nicht wirklich wahrgenommen, eigentlich nur wenn ihn nach durchfeierter Nacht auf der Straße die ersten Vogelstimmen begrüßten, um den jungen Morgen anzukündigen. Aber heute war dies einzige Zeichen von Leben in diesem Haus und in diesem traurigen Hof plötzlich wie ein Anruf. War das ein Merkmal des Älterwerdens? Er fühlte sich erfrischt, doch er blieb noch ein Weilchen liegen. Die Verabredung fiel ihm ein. Die Uhr stand immer noch. Hätte sie sich in der Nacht etwa einen Ruck geben sollen? Das Schweigen um ihn herum war so dicht, daß er sich von der Welt abgetrennt fühlte wie in einem Keller. Auf dem Gang keine Schritte. Er stand langsam auf. Heute mußte er keine Büro-Uniform tragen. Als habe er alle Zeit der Welt, räumte er sein Zimmer ein wenig auf, die mißhandelte Anzugjacke kam auf einen Bügel. Ob es noch Frühstück gab? Die Serbin, die in diesem Haus den Kaffee kochte, verließ ihre Küche um elf.

Der Frühstücksraum war leer. Am Wochenende hatte die Pension meist wenige Gäste. Die Serbin trat ein und brachte Kaffee. Der junge Mann schlug die Zeitung auf und las sie gründlich. Er fühlte, daß er heute alles ganz langsam machen müsse, diese friedvolle Langsamkeit gehörte noch zum Schlaf. Er bestellte ein zweites Kännchen Kaffee. Die Zeitung war ausgelesen. Es gab eigentlich keinen Grund mehr, sich in diesem Frühstücksraum aufzuhalten, der, sowie man gefrühstückt hatte, gleich ein wenig unwirtlicher zu werden schien. Bis zu diesem Augenblick hatte der junge Mann es sich verboten, nach der Uhr zu fragen. Das tat er jetzt.

Die Serbin sagte» Halb zehn«.

Es sei nicht gut, daß der Mensch allein sei, heißt es schon in der Genesis. Man könnte diesen Grundsatz einschränken, indem man einräumt, daß das Alleinsein jedenfalls gelernt sein will, wenn es zu einem wünschenswerten und fruchtbaren Zustand werden soll. Der junge Mann hatte darin gar keine Übung. Er war sein Lebtag noch niemals zwei Wochen hintereinander allein gewesen, im Internat und beim Militär hatte er sich besonders wohlgefühlt, und Ina ließ er schon zwei Jahre vor der Hochzeit kaum einen Augenblick aus den Augen. Mit den eigenen Gedanken allein zu sein war ein Abenteuer, das Überraschungen bereithielt. Was man in Gesellschaft gar nicht richtig mitbekam: den Wechsel der Stimmungen, wurde, sowie man allein war, zum staunenerregenden Phänomen. In Gesellschaft war jede Stimmung Antwort auf das Betragen oder die Worte eines anderen; ein anderer Mensch machte einen wütend oder brachte einen zum Lachen, aber nun stellte sich heraus, daß Wut, Erregung, Zufriedenheit und Heiterkeit auch ganz ohne ein Gegenüber auftreten konnten und sich genauso heftig wie in Gesellschaft, ja noch viel gewaltsamer Aufmerksamkeit verschafften.

Niemals zuvor hatte der junge Mann mit dem» Schicksal«, so nannte er das jetzt hochtrabend, ein solches Spiel getrieben wie heute morgen, als es darum ging, die Verabredung in der Wohnung einzuhalten oder aber zu versäumen. Wenn du willst — wer sollte da wollen? — , daß ich diese Wohnung anschaue, dann halte du die Zeit an, hatte der junge Mann offenbar im geheimsten während seiner vormittäglichen derart provozierend in die Länge gezogenen Trödelei gedacht, und so war er jetzt von der schlichten Antwort der Serbin in einem Maße überrascht, das die Frau, die er ungläubig ansah, wohl kaum verstand.

Ein Zeichen! Wie gut, daß der sportliche Kollege nicht zugegen war, er hätte, was die beruflichen Aussichten des jungen Mannes anging, besorgt den Kopf gewiegt.

Die beiden großen Bedingungen, denen die gesuchte Wohnung genügen mußte, waren von der Wohnung am Baseler Platz erfüllt: Sie war keine Parterre-Wohnung, dafür allerdings im vierten Stock, Aufzug gab es keinen, die Treppe war wendeltreppenartig eng und ausgetreten — aber gut, darauf sollte es nicht ankommen —, und ein Park lag zwar nicht in der Nähe, aber dafür das Mainufer mit langen auf den Kais angelegten Rasenflächen; da konnte man an dem breiten braunen Wasser, von Möwen umflattert, durchaus etwas herumspazieren, sich womöglich gar auf den Rasen legen, wenn einem die zahlreichen Sonnenbadenden, die unter einer Wolke von Sonnenölduft lagerten, nicht zuwider waren.

Aber davon abgesehen waren das Haus und seine Lage wohl so weit von allen Plänen und Vorstellungen entfernt, die das junge Paar bisher erwogen haben mochte, daß man sich fragen darf, warum der junge Mann bei seinem Anblick nicht auf dem Absatz umkehrte. Ein Eckhaus mit den vertrauenerweckenden Buntsandsteinquadern im Sockel, aber wie anders wirkte dieser Stein hier als in den schönen Wohnvierteln! Etwas Rauchig-Schmutziges lag über ihm, die Kälte eines gründerzeitlichen Spekulantenbaus. Der Hauptbahnhof, der nicht weit im Rücken des Hauses lag, war hier schon spürbar, längst vergangene Lokomotivenrußigkeit blieb hier noch vorstellbar. Das eigentliche große Hurenviertel lag auf der anderen Seite der vierspurigen Trasse, schon geradezu ein Stück Stadtautobahn, die dem Haus, vom Bahnhof zur Mainbrücke führend, gleichsam über die Zehen fuhr. Mit Basel hatte der Platz nicht das geringste zu tun. Es war bei der Benennung dieser städtischen Anlage, die» Platz «im eigentlichen Sinne gar nicht heißen dürfte, schon völlig willkürlich vorgegangen worden; ohne Rücksicht auf alte Orts- oder Flurnamen hatte man diesem Unort durch die Benennung den Anstrich falscher Weltläufigkeit gegeben. Die Stadt bröselte hier regelrecht auseinander. Es war, als habe sich in der Mitte der freien Fläche, die von der Autobahn eingenommen wurde, eine geologische Verwerfung ereignet, die die Häuserzeilen links und rechts der Fahrbahn gleichsam wegkippen ließ. Unten im Haus befand sich ein Schnellimbiß mit Namen» Lalibella«, der von einem Äthiopier geführt wurde. Vorn brauste Verkehr, aber wenn man um das Haus herum in den Hof gelangte — dort war auch die Eingangstür —, herrschte plötzlich Ruhe. Nur ein Rauschen blieb, jenem Meeresrauschen verwandt, das Seereisende nach Wochen an Bord bei ihrer Rückkehr aufs Festland sogar vermissen. Ein erster Blick auf das Haus hätte dennoch genügen müssen. Die Vorstellung, mit Ina, einer Tochter der Frau von Klein, hier einzuziehen und ihr dieses Haus als tägliche Umgebung anzubieten, war, gelinde gesprochen, abwegig.

Wo sollte zum Beispiel für das Tägliche eingekauft werden? Dort drüben, diese Antwort fiel leicht. Ein pakistanischer Gemüseladen präsentierte seine Auberginen und Tomaten schön geordnet am Rand des Verkehrsgebrauses. Wesenlos, raumlos und häßlich-frostig sah es hier auf den ersten und zweiten Blick aus, aber dann sah man, daß sich die menschlichen Ameisen überall in Ritzen und Spalten der toten Gebäude kleine Lebensräume geschaffen hatten: die philippinische Wäscherei, der bengalische Zeitungskiosk, das Tattoo-Studio, das islamische Reisebüro — Spezialität: die Hedschra nach Mekka und Medina —, das libanesische Restaurant mit dem draußen groß angekündigten» All you can eat«-Sonntagsfrühstück-Angebot.

Die seefahrenden Völker des Mittelmeers hielten einst den Blick nicht auf das Hinterland ihrer Häfen, sondern auf die Gegenküsten gerichtet und überspannten leicht mit ihren Gedanken den Meeresleerraum, der sie von den dort liegenden Häfen trennte. So wurden für die hier Wohnenden wohl auch die vier Fahrspuren, die den Platz unheilbar auseinanderrissen und ganz und gar ausfüllten, nach kurzem unsichtbar, weil sie die andere Straßenseite mit den dort eingenisteten Geschäftchen und Souterrain-Lokalen im Auge behielten und Techniken entwickelt hatten, schnell auf die andere Seite zu gelangen. Mit Kinderwagen wäre das freilich schon ein gewagteres Unternehmen gewesen, aber an Kinderwagen und Sandkisten dachte der junge Mann auf einmal überhaupt nicht mehr, dafür war der Gedanke an Frau von Klein gewichtig: Daß sie es unzumutbar finden würde, hierherzukommen, war womöglich das beste Argument, die Dachwohnung aus der Zeitungsannonce wenigstens einmal anzusehen.