Der Junge hatte offensichtlich eine Mordsangst. Seine Augen schweiften unstet umher, während sie Doyles breites Gesicht suchten. Der Polizist klopfte ihm aufmunternd auf die Schulter und sagte zum Inspektor: »Er ist ein bißchen verängstigt, Sir – aber er ist ein guter Junge. Ich kenne ihn schon, seit er so ein kleiner Grünschnabel war. Er ist in meinem Bezirk aufgewachsen. – Antworte dem Inspektor, Jessie …«
»Nun, ich – ich weiß nicht, Sir«, stotterte der Junge und scharrte nervös mit seinen Füßen. »Das einzige Getränk, das wir in den Pausen verkaufen dürfen, ist Orangeade. Wir haben einen Vertrag mit …« – er nannte den Namen eines bekannten Getränkeherstellers – »und sie geben uns große Rabatte, wenn wir ausschließlich ihr Zeug verkaufen. Also –«
»Ich verstehe«, sagte der Inspektor. »Werden nur in den Pausen Getränke verkauft?«
»Ja, Sir«, antwortete der Junge etwas entspannter. »Sobald der Vorhang fällt, werden die Türen zu den Gängen geöffnet, und da stehen wir dann – mein Partner und ich, die Stände aufgebaut und die Becher fertig gefüllt.«
»Ihr seid also zu zweit?«
»Nein, Sir, zu dritt im ganzen. Ich hab’ vergessen, es zu erwähnen – noch ein Junge ist unten im Hauptfoyer.«
»Mmmm.« Der Inspektor sah ihn mit großen freundlichen Augen an. »Nun, mein Junge, wenn das Römische Theater nur Orangeade verkauft, kannst du mir vielleicht erklären, wie die Flasche Ginger Ale hierhin gelangt ist?«
Seine Hand verschwand nach unten, tauchte wieder auf und schwenkte die dunkelgrüne Flasche, die Hagstrom entdeckt hatte. Der Junge erblaßte und biß sich auf die Lippen. Seine Augen schweiften unruhig umher, als suchten sie eine schnelle Fluchtmöglichkeit. Er steckte sich einen großen und schmutzigen Finger zwischen Hals und Kragen und hustete.
»Nun – nun …« Er hatte einige Schwierigkeiten zu reden.
Inspektor Queen legte die Flasche hin und ruhte mit seinem ganzen Gewicht auf der Lehne eines Sitzes. Er schlug seine Arme streng übereinander. »Wie heißt du?« wollte er wissen.
Die Farbe im Gesicht des Jungen ging über von Blauweiß zu einem käsigen Gelb. Er schielte verstohlen zu Hagstrom herüber, der betont auffällig Notizblock und Stift aus seiner Tasche gezogen hatte und drohend auf Antwort wartete.
Der Junge befeuchtete seine Lippen. »Lynch – Jess Lynch«, sagte er heiser.
»Und wo befindet sich dein Stand in den Pausen, Lynch?« fragte der Inspektor unheilvoll.
»Ich – ich bin genau hier, im Gang auf der linken Seite, Sir«, stammelte der Junge.
»Aha!« sagte der Inspektor und legte seine Stirn in furchterregende Falten. »Und du hast heute abend im linken Gang Getränke verkauft, Lynch?«
»Nun, nun – ja, Sir.«
»Kannst du dann etwas über diese Flasche Ginger Ale sagen?«
Der Junge sah sich suchend um, erblickte die stämmige kleine Gestalt von Louis Panzer, der gerade seine Ankündigung machen wollte, auf der Bühne, neigte sich nach vorne und flüsterte: »Ja, Sir, ich weiß von der Flasche. Ich – ich wollte nicht darüber reden, weil Mr. Panzer sehr streng ist, wenn es um das Einhalten von Richtlinien geht, und er würde mich auf der Stelle feuern, wenn er wüßte, was ich gemacht habe. Sie werden es ihm doch nicht erzählen, Sir?«
Der Inspektor lächelte nun, als er erwiderte: »Schieß los, mein Junge. Du hast etwas auf dem Herzen – nur heraus damit.« Er lehnte sich zurück und auf einen Fingerzeig von ihm hin machte sich Hagstrom unbeteiligt davon.
»Das war also so, Sir«, fing Jess Lynch nun eifrig an. »Ich hatte meinen Stand im Durchgang aufgebaut, so ungefähr fünf Minuten vor dem Ende des ersten Aktes, wie wir das auch sollen. Als das Mädchen nach dem ersten Akt die Türen öffnete, fing ich an, den herauskommenden Leuten meine Sachen anzupreisen. Das machen wir alle. Viele Leute kauften Getränke, und ich war so beschäftigt, daß ich nichts mehr um mich herum wahrnehmen konnte. Nach einiger Zeit konnte ich etwas Luft holen, und da kam ein Mann auf mich zu und sagte: ›Ich hätte gern eine Flasche Ginger Ale, Junge.‹ Ich sah auf und bemerkte, daß es ein geschniegelter Kerl in Abendgarderobe war, der sich ein bißchen beschwipst bewegte. Er lachte in sich hinein und sah ganz glücklich aus. Ich dachte so bei mir, ›Ich kann mir denken, wofür der Ginger Ale braucht!‹ und da klopfte er auch schon auf seine Hosentasche und zwinkerte. Nun –«
»Einen Augenblick, mein Junge«, unterbrach ihn Queen. »Hast du schon mal einen Toten gesehen?«
»Nun, nein Sir, aber ich denke, ich werd’ es schon aushalten«, sagte der Junge nervös.
»Prima! Ist das der Mann, der dich um das Ginger Ale gebeten hat?« Der Inspektor nahm den Jungen beim Arm und ließ ihn sich über die Leiche beugen.
Jess Lynch betrachtete sie mit ehrfürchtiger Faszination. Er nickte energisch.
»Ja, Sir. Das ist der Herr.«
»Da bist du dir jetzt ganz sicher, Jess?« Der Junge bejahte. »Dabei fällt mir ein – sind das auch die Sachen, die er trug, als er dich angesprochen hat?«
»Ja, Sir.«
»Fehlt irgend etwas, Jess?« Ellery, der sich in einer dunklen Nische niedergelassen hatte, lehnte sich ein wenig nach vorne.
Der Junge sah den Inspektor verwirrt an, sein Blick ging von Queen zur Leiche und wieder zurück. Er schwieg eine volle Minute lang, während die Queens an seinen Lippen hingen. Dann hellte sich sein Gesicht auf, und er rief: »Natürlich – ja, Sir! Er trug einen Hut – einen glänzenden Zylinder –, als er mit mir geredet hat!«
Inspektor Queen war hocherfreut. »Mach weiter, Jess – Doc Prouty! Sie haben ja endlos lang gebraucht, um hierherzukommen. Was hat Sie aufgehalten?«
Ein hoch aufgeschossener, dünner Mann mit einer schwarzen Tasche in der Hand war zu ihnen herübergekommen. Er rauchte eine gefährlich aussehende Zigarre, anscheinend ohne Rücksicht auf die örtlichen Sicherheitsbestimmungen; er schien es sehr eilig zu haben.
»Da sagen Sie was, Inspektor«, sagte er, während er seine Tasche absetzte und Ellery und Queen die Hand schüttelte. »Sie wissen doch, wir sind gerade umgezogen, und ich habe noch kein Telefon. Ich hatte einen harten Tag heute und war schon im Bett. Sie konnten mich nicht erreichen – mußten einen Mann zu meiner neuen Wohnung schicken. Ich bin so schnell es ging hierhergestürzt. Wo ist das Opfer?«
Er ließ sich im Gang auf seine Knie nieder, als der Inspektor auf den Körper am Boden wies. Ein Polizist wurde herbeigerufen, um eine Taschenlampe zu halten, während der Arzt bei der Arbeit war.
Queen nahm Jess Lynch beim Arm und führte ihn etwas abseits. »Wie ging es weiter, nachdem er dich um das Ginger Ale gebeten hatte, Jess?«
Der Junge, der den Vorgängen bewegungslos zugeschaut hatte, schluckte und fuhr fort. »Nun, Sir, ich habe ihm natürlich gesagt, daß wir kein Ginger Ale verkaufen, nur Orangeade. Er kam ein wenig näher, und ich merkte, daß er eine Fahne hatte. Er sagte verschwörerisch: ›Es ist ein halber Dollar für dich drin, wenn du mir eine Flasche besorgst, Junge! Aber ich will sie sofort!‹ Nun – Sie wissen, wie das ist, man bekommt heutzutage keine Trinkgelder mehr … Wie auch immer, ich sagte ihm, daß ich sie nicht sofort beschaffen könnte, daß ich aber schnell verschwinden und eine Flasche für ihn kaufen würde, sobald der zweite Akt angefangen hätte. Nachdem er mir gesagt hatte, wo er saß, ging er weg – ich sah, wie er zurück ins Theater ging. Sobald die Pause zu Ende war und die Platzanweiserin die Türen geschlossen hatte, verließ ich meinen Stand im Seitengang und sprang über die Straße zu Libbys Eiscafé. Ich –«