Pusak schaute ihn verwundert an. Dann befeuchtete er seine Lippen und fing an. »Also, ich saß da auf diesem Platz zusammen mit meiner – mit Miss Jablow; das Stück hat uns wirklich gut gefallen. Der zweite Akt war ganz schön aufregend – es gab viel Schießerei und Gebrüll auf der Bühne; ich stand dann auf und wollte auf den Gang raus, diesen Gang hier.« Aufgeregt zeigte er auf den Teppich unter seinen Füßen. Queen nickte freundlich.
»Ich mußte an meiner – an Miss Jablow vorbei; außer einem Mann war sonst niemand mehr zwischen ihr und dem Gang. Das ist auch der Grund, warum ich diesen Weg genommen habe. Mir ist es nicht so angenehm« – er zögerte entschuldigend – »die Leute mitten im aufregendsten Teil durch mein Hinausgehen stören zu müssen.«
»Das war sehr rücksichtsvoll von Ihnen, Pusak«, sagte der Inspektor lächelnd.
»Ja, Sir. Ich bin also die Reihe runtergegangen, hab’ mich so vorwärts getastet – denn es war ganz schön dunkel im Theater
– und bin dann auf … auf diesen Mann gestoßen.« Er schauderte und fuhr dann etwas schneller fort. »Der sitzt ziemlich seltsam, dachte ich. Seine Knie berührten den Sitz vor ihm, und ich konnte nicht vorbei. Ich sagte ›Entschuldigung‹ und versuchte es noch einmal, aber seine Knie hatten sich kein bißchen bewegt. Ich wußte nicht, was ich machen sollte, Sir; ich bin nicht so rücksichtslos wie manche Zeitgenossen, wollte mich also herumdrehen und zurückgehen, als ich auf einmal spürte, wie der Körper des Mannes auf den Boden rutschte – ich war immer noch ganz nah an ihm dran. Selbstverständlich hab’ ich einen Riesenschreck gekriegt – ist ja nur natürlich.«
»Würd’ ich auch so sehen«, sagte der Inspektor teilnahmsvoll. »Das muß Sie ziemlich mitgenommen haben. Was ist dann passiert?«
»Nun, Sir, … bevor ich überhaupt richtig merkte, was passierte, fiel er schon ganz von seinem Sitz herunter, und sein Kopf schlug gegen meine Beine. Ich wußte nicht, was ich tun sollte. Ich konnte nicht um Hilfe rufen – ich weiß nicht, warum, aber ich konnte einfach nicht; ich beugte mich zu ihm hinunter, dachte, er wäre betrunken, krank oder sonst etwas, und wollte ihn hochheben. Darüber, was ich danach zu tun hätte, hatte ich keine Vorstellung …«
»Ich weiß, was Sie empfunden haben, Pusak. Machen Sie weiter.«
»Dann passierte das, wovon ich dem Polizisten erzählt habe. Ich hatte gerade seinen Kopf zu packen bekommen, als ich merkte, wie seine Hand nach oben kam und nach meiner griff, genau so, als würde er verzweifelt versuchen, Halt zu finden. Dann stöhnte er. Es war so leise, daß ich es kaum hören konnte, aber es war so was von furchtbar. Ich kann es nicht genau beschreiben …«
»Jetzt kommen wir voran«, sagte der Inspektor. »Was dann?«
»Dann sprach er. Es war kein richtiges Sprechen, es war mehr wie ein Gurgeln, so als würde er ersticken. Er sagte ein paar Worte, die ich nicht verstand, aber ich begriff, daß da jemand nicht einfach nur krank oder betrunken war. Ich beugte mich also noch tiefer hinunter und hörte genau hin. Ich hörte ihn keuchen, ›Es war Mord … Bin ermordet worden …‹ oder so etwas.«
»Er sagte also ›Es war Mord‹?« Der Inspektor schaute Pusak scharf an. »Nun gut. Das muß Ihnen einen ziemlichen Schock versetzt haben, Pusak.« Dann fuhr er ihn auf einmal an: »Sind Sie sicher, daß der Mann ›Mord‹ sagte?«
»Genau das hab’ ich gehört, Sir. Ich hab’ gute Ohren«, sagte Pusak verbissen.
»Gut.« Queen lächelte wieder entspannt. »Ich wollte nur ganz sichergehen. Was haben Sie dann gemacht?«
»Dann spürte ich, wie er sich noch einmal aufbäumte und plötzlich in meinen Armen schlaff wurde. Ich hatte Angst, er wäre tot; ich weiß nicht wie – aber das nächste, woran ich mich erinnere, ist, daß ich das alles ein Stück weiter hinten dem Polizisten erzählte, diesem da.« Er zeigte auf Doyle, der unbeteiligt auf seinen Fersen hin und her wippte.
»Und das ist alles?«
»Ja, Sir. Jawohl. Das ist alles, was ich darüber weiß«, sagte Pusak mit einem Seufzer der Erleichterung.
Queen packte ihn vorne an seinem Kragen und schnauzte ihn an: »Das ist nicht alles, Pusak. Sie haben vor allen Dingen vergessen, uns zu erzählen, warum Sie Ihren Platz verlassen haben.« Er blickte dem kleinen Mann genau in die Augen.
Pusak hustete, schwankte einen Augenblick unentschlossen hin und her, so als wäre er sich über seine nächsten Worte nicht ganz im klaren, beugte sich dann aber etwas nach vorne und flüsterte dem erstaunten Inspektor etwas ins Ohr.
»Oh!« Queens Lippen zeigten den Anflug eines Lächelns, aber er sagte ernst: »Ich verstehe, Pusak. Vielen Dank für Ihre Hilfe. Es ist nun alles in Ordnung. Sie dürfen jetzt auf Ihren Platz zurückkehren und dann später mit den anderen das Gebäude verlassen.« Eine Handbewegung zeigte an, daß er entlassen war. Pusak schlich, nachdem er noch einen jammervollen Blick auf die Leiche geworfen hatte, die Rückseite der letzten Reihe entlang und tauchte wieder an der Seite des Mädchens auf. Sie zog ihn sofort in eine zwar im Flüsterton gehaltene, aber dennoch angeregte Unterhaltung.
Als der Inspektor sich leise lächelnd zu Velie umwandte, wirkte Ellery ein wenig ungeduldig, setzte zu reden an, überlegte es sich dann aber anders, zog sich schließlich nach hinten zurück und verschwand aus dem Blickfeld.
»Nun gut, Thomas«, seufzte der Inspektor. »Dann wollen wir mal einen Blick auf den Burschen werfen.«
Er kniete zwischen den beiden Reihen nieder und beugte sich gewandt über den toten Mann. Trotz der guten Beleuchtung durch die Deckenlampen war es am Fußboden in dem beengten Raum zwischen den Sitzreihen dunkel. Velie knipste eine Taschenlampe an und neigte sich etwas nach vorne über den Inspektor, um den hellen Lichtstrahl immer dorthin bewegen zu können, wo die Hände des Inspektors gerade umherwanderten. Schweigend zeigte Queen auf einen häßlichen braunen Fleck auf der sonst so makellosen Hemdbrust.
»Blut?« fragte Velie brummend.
Der Inspektor beschnupperte sehr sorgsam das Hemd. »Nichts Schlimmeres als Whisky«, gab er zurück.
Geschwind fuhr er mit den Händen über den Körper, befühlte die Herzgegend und den Hals – dort, wo der Kragen gelockert war – und schaute dann zu Velie auf.
»Es sieht wirklich nach Gift aus, Thomas. Könntest du mir diesen Dr. Stuttgard mal herholen? Ich würde gerne seine Meinung dazu hören, bevor Prouty eintrifft.«
Velie stieß barsch einen Befehl aus, und einen Moment später erschien hinter einem Kriminalbeamten ein mittelgroßer Mann in Abendkleidung, mit olivbrauner Gesichtsfarbe und einem dünnen schwarzen Schnurrbart.
»Hier ist er, Inspektor«, sagte Velie.
»Ah, ja.« Queen unterbrach die Untersuchung und schaute zu ihm auf. »Guten Abend, Doktor. Ich hörte, daß Sie die Leiche unmittelbar nach ihrer Entdeckung untersucht haben. Ich erkenne keine offensichtliche Todesursache – was ist Ihre Ansicht?«
»Meine Untersuchung war notgedrungen nur eine sehr oberflächliche«, sagte Dr. Stuttgard vorsichtig, während seine Finger ein nichtexistentes Stäubchen von seinem Satinrevers schnippten. »In dem Halbdunkel und unter diesen Umständen konnte ich zunächst keine Anzeichen eines unnatürlichen Todes feststellen. Wegen der Verzerrung der Gesichtsmuskulatur dachte ich zunächst, es wäre ein einfacher Fall von Herzversagen, aber bei näherem Hinsehen bemerkte ich die Blaufärbung des Gesichts – bei diesem Licht ist sie doch ziemlich deutlich, nicht wahr? Das, zusammen mit dem Alkoholdunst vom Mund her, schien auf irgendeine Form von Alkoholvergiftung hinzudeuten. Eines kann ich Ihnen auf jeden Fall sicher sagen – dieser Mann starb nicht an einem Schuß oder einem Stich. Das habe ich natürlich sofort überprüft. Ich habe sogar seinen Hals untersucht – wie Sie sehen, habe ich den Kragen gelockert –, um sicher zu gehen, daß er nicht erwürgt worden ist.«