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Als ich mein Zimmer verlassen hatte, suchte ich einen Gang zu gewinnen, der im südlichen Teile des Schlosses in der Länge desselben dahin läuft. Seine Fenster münden in den Hof und von ihm gehen Türen in die, gegen Mittag liegenden Zimmer Mathildens und Nataliens. Diese Türen, einst vielleicht zum Gebrauche für Gäste bestimmt, waren jetzt meistens geschlossen, weil die Verbindung im Innern der Zimmer hergestellt war. Ich hatte den Gang darum aufgesucht, weil er an der Westseite des Schlosses zu einer kleinen Treppe führt, die abwärts geht und in ein Pförtchen endet, das gewöhnlich des Morgens geöffnet wurde und durch das man unmittelbar in die Felder auf breite, trockene Wege gelangen konnte, die den Wanderer unbemerkter ins Weite führen, als es durch den Hauptausgang des Schlosses möglich gewesen wäre. Die Bewohnerinnen der Zimmer, die an den Gang stießen, glaubte ich darum nicht stören zu können, weil das Steinpflaster des Ganges seiner ganzen Länge nach mit einem weichen Teppiche belegt war, der keine Tritte hören ließ. Außerdem hatte die Sonne auch bereits einen so hohen Morgenbogen zurückgelegt, daß zu vermuten war, daß alle im Schlosse schon längst aufgestanden sein würden.

Da ich gegen das Ende des Ganges und in die Nähe der Treppe gekommen war, sah ich eine Tür offen stehen, von der ich vermutete, daß sie zu den Zimmern der Frauen führen müsse. War die Tür offen, weil man fortgehen wollte oder weil man eben gekommen war? Oder hatte eine Dienerin in der Eile offen gelassen, oder war irgend ein anderer Grund? Ich zauderte, ob ich vorbeigehen sollte; allein, da ich wußte, daß die Tür doch nur in einen Vorsaal ging und da die Treppe schon so nahe war, die mich ins Freie führen sollte, so beschloß ich, vorbei zu gehen und meine Schritte zu beschleunigen. Ich schritt auf dem weichen Teppiche fort und trat nur behutsamer auf. Da ich an der Tür angekommen war, sah ich hinein. Was ich vermutet hatte, bestätigte sich, die Tür ging in einen Vorsaal. Derselbe war nur klein und mit gewöhnlichen Geräten versehen. Aber nicht bloß in den Vorsaal konnte ich blicken, sondern auch in ein weiteres Zimmer, das mit einer großen Glastür an den Vorsaal stieß, welche Glastür noch überdies halb geöffnet war. In diesem Zimmer aber stand Natalie. An den Wänden hinter ihr erhoben sich edle mittelalterliche Schreine. Sie stand fast mitten in dem Gemache vor einem Tische, auf welchem zwei Zithern lagen und von welchem ein sehr reicher altertümlicher Teppich nieder hing. Sie war vollständig, gleichsam wie zum Ausgehen gekleidet, nur hatte sie keinen Hut auf dem Haupte. Ihre schönen Locken waren auf dem Hinterhaupte geordnet und wurden von einem Bande oder etwas Ähnlichem getragen. Das Kleid reichte wie gewöhnlich bis zu dem Halse und schloß dort ohne irgend einer fremden Zutat. Es war wieder von lichtem, grauem Seidenstoffe, hatte aber sehr feine, stark rote Streifen. Es schloß die Hüften sehr genau und ging dann in reichen Falten bis auf den Fußboden nieder. Die Ärmel waren enge, reichten bis zum Handgelenke und hatten an diesem wie am Oberarme dunkle Querstreifen, die wie ein Armband schlossen. Natalie stand ganz aufrecht, ja der Oberkörper war sogar ein wenig zurückgebogen. Der linke Arm war ausgestreckt und stützte sich mittelst eines aufrecht stehenden Buches, auf das sie die Hand legte, auf das Tischchen. Die rechte Hand lag leicht auf dem linken Unterarm. Das unbeschreiblich schöne Angesicht war in Ruhe, als hätten die Augen, die jetzt von den Lidern bedeckt waren, sich gesenkt und sie dächte nach. Eine solche reine, feine Geistigkeit war in ihren Zügen, wie ich sie an ihr, die immer die tiefste Seele aussprach, doch nie gesehen hatte. Ich verstand auch, was die Gestalt sprach, ich hörte gleichsam ihre inneren Worte: »Es ist nun eingetreten!« Sie hatte mich nicht kommen gehört, weil der Teppich den Fußboden des Ganges bedeckte und sie konnte mich nicht sehen, weil ihr Angesicht gegen Süden gerichtet war. Ich beobachtete nur zwei Augenblicke ihre sinnende Stellung und ging dann leise vorüber und die Treppe hinunter. Es erfüllte mich gleichsam mit einem Meere von Wonne, Natalien von der nehmlichen Empfindung beseelt zu sehen, die ich hatte, von der Empfindung, sich das errungene, kaum gehoffte und so hoch gehaltene Gut geistig zu sichern, sich klar zu machen, was man erhalten hat und in welche neue, unermeßlich wichtige Wendung des Lebens man eingetreten sei. Ich konnte es kaum fassen, daß ich es sei, um den eine Gestalt, die das Schönste ausdrückt, was mir bis jetzt bekannt geworden ist, eine Gestalt, die man wohl auch stolz geheißen, die sich bisher von jeder Neigung abgewendet hatte, in diese tiefe sinnende Empfindung gesunken sei. Ich dachte mir, daß ich, so lange ich lebe, und sollte mein Leben bis an die äußerste Grenze des menschlichen Alters oder darüber hinaus gehen, mit jedem Tropfen meines Blutes, mit jeder Faser meines Herzens sie lieben werde, sie möge leben oder tot sein, und daß ich sie fort und fort durch alle Zeiten in der tiefsten Seele meiner Seele tragen werde. Es erschien mir als das süßeste Gefühl, sie nicht nur in diesem Leben, sondern in tausend Leben, die nach tausend Toden folgen mögen, immer lieben zu können. Wie viel hatte ich in der Welt gesehen, wie viel hatte mich erfreut, an wie Vielem hatte ich Wohlgefallen gehabt: und wie ist jetzt alles nichts, und wie ist es das höchste Glück, eine reine, tiefe, schöne menschliche Seele ganz sein eigen nennen zu können, ganz sein eigen.

Ich ging durch das Pförtchen hinaus, das ich nur angelehnt fand, und ging auf dem Wege fort, der an dieser Seite vor dem Schlosse vorbei führt und dann in die Felder hinaus geht. Er ist breit, mit feinem Sande belegt und eignet sich daher seiner Trockenheit willen ganz besonders zu Morgenspaziergängen. Er ist von dem vorigen Besitzer des Schlosses angelegt und von Mathilden verbessert worden. Er geht von dem Pförtchen nach beiden Richtungen, nach Norden und nach Süden, ziemlich weit fort und bildet auf diese Weise zu dem Schlosse eine Berührungslinie. Roland hatte ihn scherzweise auch immer den Berührweg genannt. Die Obstbäume, die ihn jetzt häufig säumen, hat Mathilde meistens schon erwachsen an ihn versetzt. Früher war der ganze Weg eine Allee von Pappeln gewesen; allein, da er ganz gerade durch die Gegend geht und mit den geraden Bäumen bepflanzt war, so erschien er sehr unschön und für einen Lustweg, was er sein sollte, wenig geeignet. Nach Beratungen mit ihren Freunden hatte Mathilde die Pappeln, welche außerdem auch den Feldern sehr schädlich waren, nach und nach beseitigt. Sie waren gefällt und ihre Wurzeln ausgegraben worden. Da man die Obstbäume an ihre Stelle setzte, vermied man es absichtlich, an allen Plätzen, an welchen Pappeln gestanden waren, Obstbäume zu pflanzen, damit nicht wieder statt der Pappelallee eine Obstbaumallee würde, was zwar minder unschön als früher gewesen wäre, aber doch immer noch nicht schön. Durch diese Unterbrechung der Baumpflanzung erhielt der Weg, dessen gerade Richtung schwer zu beseitigen gewesen wäre und die doch sonst zu eigentümlich war, als daß man sie hätte abändern sollen, wenn man nicht Alles nach ganz neuen Gedanken einrichten wollte, die nötige Abwechslung. Mitternachtwärts von dem Schlosse führt er durch Wiesen und Felder an Gebüschen hin, steigt dann zu einem Walde hinan, in welchen er eine Strecke eindringt. Südwärts geht er durch Felder, hat dort besonders schöne Apfelbäume an seinen Seiten, wölbt sich sanft über einen Ackerrücken und gewährt von ihm eine schöne Aussicht in die Gebirge.

Ich schlug die Richtung nach Süden ein, wie ich überhaupt sehr gerne bei dem Beginne eines Spazierganges so gehe, daß ich leicht nach Mittag sehe, das Licht vor mir habe und in den schöneren Glanz und die lieblichere Färbung der Wolken blicken kann. Der Himmel war wie gestern ganz heiter, die Sonne stand in seinem östlichen Teile und begann die Tropfen, welche an allen Gräsern und an dem Laube der Bäume hingen, aufzusaugen. Die Morgenkühle war noch nicht vergangen, obwohl der Einfluß der Sonne immer mehr und mehr bemerkbar wurde. Ich sah mit neuen Augen auf alle Dinge um mich, es schien, als hätten sie sich verjüngt und als müßte ich mich wieder allmählich an ihren Anblick gewöhnen. Ich kam auf die Anhöhe und sah auf den langen Zug der Gebirge. Die blauen Spitzen blickten auf mich herüber, und die vielen Schneefelder zeigten mir ihren feinen Glanz. Ich sah auch die Berghäupter an dem Kargrat, wo ich zuletzt gearbeitet hatte. Mir war, als wäre es schon viele Jahre, seit ich in jenen Eisfeldern und Schneegründen gewesen war. Ich ließ, während ich so dastand, die milde Luft, den Glanz der Sonne und das Prangen der Dinge auf mich wirken. Sonst hatte ich immer irgend ein Buch in meine Tasche gesteckt, wenn ich in der Gegend herum gehen wollte; heute hatte ich es nicht getan. Mir war jetzt nicht, als sollte ich irgend ein Buch lesen. Ich ging nach einer Weile wieder an den Bäumen dahin, an denen schon die mannigfaltigen Äpfel hingen, die jeder nach seiner Art brachte und die schon hie und da ihre eigentümliche Farbe zu erhalten begannen. Ich ging so lange auf der Anhöhe des Felderrückens fort, bis sie sich leicht zu senken anfing, über welche Senkung der Weg noch hinabgeht, um in dem Tale an der Grenze eines fremden Gutes zu enden oder vielmehr in einen anderen Weg überzugehen, der die Eigenschaften aller jener Fußwege hat, die in unzähligen Richtungen unser Land durchziehen und auf deren taugliche Beschaffenheit, Verbesserung oder Verschönerung niemand denkt. Ich ging auf der Senkung des Weges nicht mehr hinunter, weil ich nicht talwärts kommen wollte, wo die Blicke beengt sind.