Выбрать главу

»Als einige Zeit verflossen war, wuchs mir Mut und Kraft im Herzen. Unser Lehrer, ein würdiger Rat in der Rechtsversammlung der Schule, lehrte fragend. Ich schrieb getreulich seine Lehren in meine Hefte. Als schon eine große Zahl meiner Mitschüler gefragt worden war, als endlich die Reihe auch mich getroffen hatte, erkannte ich, daß ich Vielen, die mich an Kleidern und äußerem Benehmen übertrafen, in unserem Lehrfache nicht nachstehe, sondern einer großen Zahl vor sei. Dies lehrte mich nach und nach die mir bisher fremd gebliebenen Verhältnisse der Stadt würdigen, und sie wurden mir immer mehr und mehr vertraut. Einige Schüler hatte ich schon früher gekannt, da sie vor mir von der nehmlichen Lehranstalt, in der ich bisher gewesen war, hieher übergetreten waren; andere lernte ich noch kennen. Als meine Barschaft, mit der ich sehr strenge Haus hielt, sich schon sichtlich zu verringern begann, wurde ich von einem meiner Mitschüler, der mein Nachbar auf der Schulbank war und aus meinem Munde gehört hatte, daß ich früher Unterricht gegeben habe, aufgefordert, seine zwei kleinen Schwestern zu unterrichten. Wir hatten durch die tägliche Berührung eine Art Freundschaft geschlossen und waren einander geneigt. Als er daher zu Hause gehört hatte, daß man für die zwei kleinen Mädchen einen Lehrer suche, schlug er mich vor und erzählte mir auch von der Sache. Die Eltern wollten mich sehen, er führte mich zu ihnen und ich wurde angenommen. Auch hatten die Schritte, welche ich selber nach meiner Berechnung der Dinge getan hatte, um durch Erteilung von Unterricht einen Erwerb zu bekommen, Erfolg. Sie hatten zwar keinen bedeutenden, auf einen solchen hatte ich nicht gerechnet, aber sie hatten doch einen. So war das in Erfüllung gegangen, was ich durch meine Umsiedlung in die große Stadt angestrebt hatte. Ich lebte jetzt sorgenfrei, hatte in dem Hause meines Freundes, in welches ich öfter geladen wurde, eine Gattung Familienumgang und konnte mit allem Eifer der Erlernung meines Faches mich widmen.«

»In den ersten Ferien besuchte ich die Mutter und Schwester. Ich hatte die besten Zeugnisse in meinem Koffer und konnte ihnen von meinen sehr guten anderweitigen Erfolgen erzählen; denn gegen das Ende des Schuljahres hatten sich diese sehr gebessert. Mit ganz anderem Herzen als vor einem Jahre konnte ich nach dem Ende der Ferien das mütterliche Haus verlassen, und die Reise in die Stadt antreten.«

»Nach dem zweiten Jahre konnte ich die Meinigen nicht mehr besuchen. Ich war in der Stadt bekannt geworden, die Art, wie ich Kinder unterrichtete, sagte vielen Familien zu, man suchte mich und gab mir auch einen größeren Lohn. Ich konnte mir dadurch mehr erwerben, legte mir stets etwas als Sparpfennig zurück und hatte bei der Freudigkeit meines Gemütes über diesen Fortgang Kraft genug, neben meinem Fache auch noch meine Lieblingswissenschaften Mathematik und Naturlehre zu betreiben. Nur das Einzige war störend, daß die Familien, bei denen ich Unterricht gab, nicht gerne sahen, daß ich durch eine Reise den Unterricht unterbreche. Es war diese Forderung eine begreifliche, ich blieb mit den Meinigen in einem lebhafteren Briefwechsel als früher und verabredete mit ihnen, daß ich nicht eher als nach Beendigung meines Lehrganges sie wieder besuchen, dann aber einige Monate bei ihnen bleiben wolle. Hiemit waren auch die, in deren Dienste ich stand, zufrieden.«

»Die Stadt, welche mir Anfangs so unheimlich gewesen war, wurde mir immer lieber. Ich gewöhnte mich daran, immer fremde Menschen in den Gassen und auf den Plätzen zu sehen und darunter nur selten einem Bekannten zu begegnen; es erschien mir dieses so weltbürgerlich, und wie es früher mein Gemüt niedergedrückt hatte, so stählte es jetzt dasselbe. Einen schönen Einfluß übten auf mich die großen wissenschaftlichen und Kunsthilfsmittel, welche die Stadt besitzt. Ich besuchte die Büchersammlungen, die der Gemälde, ich ging gerne in das Schauspiel und hörte gute Musik. Es lebte von jeher ein großer Eifer für wissenschaftliche Bestrebungen in mir, und ich konnte demselben jetzt bei der Heiterkeit meiner Lage Nahrung geben. Was ich bedurfte und was ich durch meine Mittel mir nicht hätte anschaffen können, fand ich in den Sammlungen. Da ich den sogenannten Vergnügungen nicht nachging, sondern in meinen Bestrebungen mein Vergnügen fand, so hatte ich Zeit genug, und weil ich gesund und stark war, reichte auch meine Kraft aus. In hohem Maße befriedigten mich einige schöne Gebäude, besonders Kirchen, dann Bildsäulen und Gemälde. Ich brachte manchen Tag damit zu, mich in die Betrachtung der kleinsten Teile dieser Dinge zu vertiefen. Auch hatte ich manche Familien kennen gelernt, wurde bei ihnen aufgenommen und bildete nach und nach meinen Umgang mit Menschen etwas mehr heraus.«

»Da ich in dem zweiten Jahre meiner Lernzeit war, vermählte sich meine Schwester. Ich hatte ihren jetzigen Gatten schon früher gekannt. Er war ein sehr guter Mann, hatte keine Leidenschaften, keine übeln Gewohnheiten, war häuslich sogar auch tätig, hatte eine angenehme Körpererscheinung, war aber sonst nichts mehr. Diese Vermählung hatte mir keine Freude und kein Leid gemacht. Da ich meine Schwester so liebte, so war mir stets, daß sie nie einen andern Mann als den allerherrlichsten bekommen solle. Dies war nun wohl nicht der Fall. Die Mutter schrieb mir, daß mein Schwager seine Gattin sehr verehre, daß er lange und treu um sie geworben und endlich ihr Herz gewonnen habe. Sie wohnen in unserem Hause, und von da aus treibe er still und emsig sein kleines Handelsgeschäft, das sie nähre. Ich schrieb einen Brief entgegen, worin ich den Vermählten Glück und Segen wünschte und den Schwager bat, seine Gattin sehr zu lieben, zu schonen und zu ehren; denn ich glaube, daß sie es verdiene. Die Antworten versprachen alles, so wie die folgenden Briefe immer den Stempel eines stillen häuslichen Friedens trugen.«

»In diesen Verhältnissen kam die Zeit heran, da ich mit den letzten Prüfungen meine Vorbereitungsjahre beendigt hatte. Ich richtete eben mein Reisegepäcke zusammen, um der Verabredung gemäß nach langer Trennung die Meinigen wieder zu sehen, als ein Brief von der Hand der Schwester kam, dessen Inneres häufige Tränenspuren zeigte und der mir sagte, daß unsere Mutter gestorben sei. Sie war vor einiger Zeit krank geworden, man hielt das Übel nicht für gefährlich, und da man mich in der Vorbereitung zu meinen letzten Prüfungen wußte, so wollte man mir, um mich nicht zu stören, keine Meldung von der Krankheit zukommen lassen. So zog es sich durch zehn Tage hin, von wo es sich rasch verschlimmerte, und ehe man es sich versah, mit dem Tode endigte. Man konnte mir nur mehr diesen melden. Ich raffte sofort alles zusammen, was zu einer Reise nötig schien, schrieb zwei Zeilen an einen Freund, worin ich ihn bat, die Sache meinen Bekannten, die ich ihm bezeichnete, zu melden und mich zu entschuldigen, daß ich ohne Abschied abreise. Hierauf ging ich auf die Post und ließ mich einschreiben. Zwei Stunden darnach saß ich schon in dem Wagen, und obwohl wir in der Nacht wie am Tage fuhren, obwohl ich von der letzten Post aus, an der der Weg nach meiner Heimat ablenkte, eigene Pferde nahm und mittelst Wechsels derselben unaufhörlich fortfuhr, so kam ich doch zu spät, um die irdische Hülle meiner Mutter noch einmal sehen zu können. Sie ruhte bereits im Grabe. Nur in ihren Kleidern, in Geräten, im Arbeitszeuge, das auf ihrem Tischchen lag, sah ich die Spuren ihres Daseins. Ich warf mich in eine Lehnbank und wollte in Tränen vergehen. Es war der erste große Verlust, den ich erlitten hatte. Zur Zeit des Todes des Vaters war ich zu jung gewesen, um ihn recht empfinden zu können. Obwohl der erste Schmerz unsäglich heiß gewesen war und ich geglaubt hatte, ihn nicht überleben zu können, so verminderte er sich wider meinen Willen von Tag zu Tag immer mehr, bis er zu einem Schatten wurde und ich mir nach Verlauf von einigen Jahren keine Vorstellung mehr von dem Vater machen konnte. Jetzt war es anders. Ich hatte mich daran gewöhnt, die Mutter als das Bild der größten häuslichen Reinheit zu betrachten, als das Bild des Duldens, der Sanftmut, des Ordnens und des Bestehens. So war sie ein Mittelpunkt für unser Denken geworden, und mir kam fast nicht zu Sinne, daß das je einmal anders werden könne. Jetzt wußte ich erst, wie sehr wir sie liebten. Sie, die nie gefordert hatte, die nie auf sich irgend eine Beziehung gemacht hatte, die geräuschlos immer gegeben hatte, die jedes Schicksal als eine Fügung des Himmels empfangen hatte und die in ruhigem Glauben ihre Kinder der Zukunft anvertraut hatte, war nicht mehr. Unter der Decke der Schollen schlummerte ihr Herz, das dort vielleicht so ergebungsvoll schlummerte, wie es sonst in der Kammer unter der Hülle seiner weißen Decke geschlummert hatte. Die Schwester war wie ein Schatten, sie wollte mich trösten, und ich wußte nicht, ob sie des Trostes nicht noch bedürftiger wäre als ich. Der Gatte meiner Schwester war in einer gewissen Ergebung, er war stille und ging an die Beschäftigungen seines Berufes. Ich ließ mir nach einer Zeit das frische Grab der Mutter zeigen, weinte dort meine Seele aus und betete für sie zu dem Herrn des Himmels. Da ich in das Haus zurückgekehrt war, besuchte ich alle Räume, in denen sie zuletzt geweilt hatte, besonders ihr eigenes Stübchen, in welchem man alles gelassen hatte, wie es bei ihrer Erkrankung gewesen war. Der Schwager und die Schwester boten mir an und baten mich, eine Zeit bei ihnen zu verweilen. Ich nahm es an. In dem hinteren Teile des Hauses, den ich immer am meisten geliebt hatte, war schon vor der Erkrankung der Mutter ein Zimmer für mich, größtenteils durch ihre Hände, hergerichtet worden. Dieses Zimmer bezog ich und packte darin meinen Koffer aus. Seine zwei Fenster gingen in den Garten, die weißen Fenstervorhänge hatte noch die Mutter geordnet, und das Linnen des Bettes war durch ihre vorsorglichen Finger gleichgestrichen worden. Ich getraute mir kaum, etwas zu berühren, um es nicht zu zerstören. Ich blieb sehr lange unbeweglich in dem Zimmer sitzen. Dann ging ich wieder durch das ganze Haus. Es schien mir gar nicht, als ob es das wäre, in welchem ich die Tage meiner Kindheit verlebt hatte. Es erschien mir so groß und fremd. Die Wohnung, welche sich meine Schwester und ihr Gatte darin eingerichtet hatten, war früher nicht da gewesen, dafür war das Gemach für Vater und Mutter, das immer, auch nach seinem Tode, noch bestanden war, verschwunden, ebenso fand ich das Zimmer für uns Kinder nicht mehr, welches ich in allen Ferien, die ich zu Hause zugebracht hatte, noch in dem Zustande aus unserer früheren Zeit her gesehen hatte. Es war eben eine neue Haushaltung in dem Gebäude eingerichtet worden. Unter dem Dache angekommen, sah ich, daß man schadhafte Stellen des Daches ausgebessert hatte, daß man neue Ziegel genommen hatte und daß an den Kanten, wo sich früher die Rundziegel befunden hatten, die neue Art der Verklebung durch Mörtel angewendet worden war. Dies alles tat mir wehe, obwohl es natürlich war, und obwohl ich es zu einer andern Zeit kaum beachtet haben würde. Jetzt aber war mein Gemüt durch den Schmerz erregt, und jetzt schien es mir, als ob man alles Alte, auch die Mutter, aus dem Hause hinaus gedrängt hätte.«