»So war eine Zeit vergangen, und so kam nach und nach der Herbst. Ich lebte mich immer mehr in das Haus ein und fühlte mich mit jedem Tage wohler. Man behandelte mich sehr gütig. Was ich bedurfte, war immer da, ehe das Bedürfnis sich noch klar dargestellt hatte. Aber auch nicht bloß das wurde hergestellt, was ich bedurfte, sondern auch das, was zum Schmucke des Lebens geeignet ist. Blumen, die ich liebte, wurden in Töpfen in meine Zimmer gestellt, ein Buch, ein neues Zeichnungsgeräte fand sich von Zeit zu Zeit ein, und da ich einmal auf mehrere Tage abwesend war, sah ich bei meiner Rückkehr meine Wohnung mit Farben bekleidet, die ich einmal bei einem Besuche in einem Nachbarschlosse sehr gelobt hatte. Bei Spaziergängen gesellte sich der Vater Alfreds gerne zu mir, wir gingen abgesondert von den Andern und führten Gespräche, die mir in dem, was er sagte, sehr inhaltreich schienen. Ebenso war die Mutter Alfreds nicht ungeneigt, sich mit mir zu besprechen. Wenn ich in Alfreds Zimmer war, das an das ihrige grenzte, kam sie gerne herein und sprach mit mir, oder sie ließ mich in ihr Zimmer treten, wies mir einen Sitz an und redete mit mir. Ich hatte ihr nach und nach alle meine Familienverhältnisse erzählt, sie hatte teilnehmend zugehört und hatte manches Wort gesprochen, das höchst wohltätig in meine Seele ging. Alfred war mir gleich in den ersten Tagen zugetan, und diese Neigung wuchs. Sein Wesen war nicht verbildet. Er war körperlich sehr gesund, und dies wirkte auch auf seinen Geist, der nebstdem überall von den Seinigen mit Maß und Ruhe umgeben war. Er lernte sehr genau und lernte leicht und gut, er war folgsam und wahrhaftig. Ich wurde ihm bald zugeneigt. Noch ehe der Winter kam, verlangte er, daß er nicht mehr neben der Mutter, sondern neben mir wohnen solle, er sei ja kein so kleiner Knabe mehr, daß er die Mutter immer brauche, und er müsse nun bald neben den Männern sein. Man willfahrte ihm auf meine Bitte, er bekam ein Zimmer neben mir, und der Diener, der bis jetzt nebst andern meine Aufträge zu besorgen gehabt hatte, wurde uns gemeinschaftlich beigegeben. Sein Körper entwickelte sich auch ziemlich regsam, er war in dem Sommer gewachsen, sein Haupt war regelmäßiger und sein Blick war stärker geworden.«
»So endete der Herbst, und als bereits die Reife an jedem Morgen auf den Wiesen lagen, zogen wir in die Stadt. Hier änderte sich Manches. Alfred und ich wohnten wohl wieder neben einander; aber statt des Himmels und der Berge und der grünen Bäume sahen Häuser und Mauern in unsere Fenster herein. Ich war es von früherem Stadtleben gewohnt, und Alfred achtete wenig darauf. Es wurden mehr Lehrer in mehr Fächern genommen, und die Lehrstunden waren gedrängter als auf dem Lande. Auch kamen wir mit viel mehr Menschen in Berührung und die Einwirkungen vervielfältigten sich. Aber auch hier wurde ich nicht minder gut behandelt als auf dem Lande. Ich wurde nach und nach zur Familie gerechnet, und alles was überhaupt der Familie gemeinschaftlich zukam, wurde auch mir zugeteilt. Die Mutter Alfreds sorgte für meine häuslichen Angelegenheiten, und nur die Anschaffung von Kleidern, Büchern und dergleichen war meine Sache.«
»Als kaum die ersten Frühlingslüfte kamen, gingen wir wieder nach Heinbach. Mathilde, Alfred und ich saßen in einem Wagen, der Vater und die Mutter in einem anderen. Alfred wollte nicht von mir getrennt sein, er wollte neben mir sitzen. Man mußte es daher so einrichten, daß Mathilde uns gegenüber saß. Sie war, als ich das Haus betreten hatte, noch nicht völlig vierzehn Jahre alt. Jetzt ging sie gegen fünfzehn. Sie war in dem vergangenen Jahre bedeutend gewachsen, so daß sie wohl so groß war wie ein vollendetes Mädchen. Ihr Körper war äußerst schlank, aber sehr gefällig gebildet. Man kleidete sie gerne in dunkle Stoffe, die ihr wohl standen. Wenn sie in dem tiefen Blau oder in dem Nelkenbraun oder in der Farbe des Veilchens ging und das schöne Weiß das Kleid oben säumte, so wurde eine Anmut sichtbar, die gleichsam sagte, daß alles sei, wie es sein muß. Ihre Wangen waren sehr frisch, sanft rot und wurden jetzt ein wenig länglich, ihr Mund war fast rosenrot, die großen Augen waren sehr glänzend schwarz, und die reinen braunen Haare gingen von der sanften Stirne zurück. Die Mutter liebte sie sehr, sie ließ sie fast gar nicht von sich, sprach mit ihr, ging mit ihr spazieren, unterrichtete sie auf dem Lande selber und wohnte in der Stadt jeder Unterrichtsstunde bei, die ein fremder Lehrer erteilte. Nur mit mir und Alfred ließ sie sie im vergangenen Sommer oft im Garten auf dem Rasenplatze, ja sogar in der Gegend herum gehen. Da ging ich mit beiden Kindern, fragte sie, erzählte ihnen, ließ mich selber fragen und ließ mir erzählen. Alfred hielt mich größtenteils an der Hand oder suchte sich überhaupt irgendwie an mich anzuhängen, sei es selbst mit einem Hakenstäbchen, das er sich von irgend einem Busche geschnitten hatte. Mathilde wandelte neben uns. Ich hatte nur den Auftrag, zu sorgen, daß sie keine heftigen Bewegungen mache, welche an sich für ein Mädchen nicht anständig sind und ihrer Gesundheit schaden könnten, und daß sie nicht in sumpfige oder unreine Gegenden komme und sich ihre Schuhe oder ihre Kleider beschmutze; denn man hielt sie sehr rein. Ihre Kleider mußten immer ohne Makel sein, ihre Zähne, ihre Hände mußten sehr rein sein, und ihr Haupt und ihre Haare wurden täglich so vortrefflich geordnet, daß kein Tadel entstehen konnte. Ich zeigte den Kindern die Berge, die zu sehen waren, und nannte sie, ich lehrte sie die Bäume, die Gesträuche und selbst manche Wiesenpflanzen kennen, ich las ihnen Steinchen, Schneckenhäuschen, Muscheln auf und erzählte ihnen von dem Haushalte der Tiere, selbst solcher, die groß und mächtig sind und in entfernten Wäldern oder gar in Wüsten wohnen. Alfred liebte das Walten und das Tun der Vögel sehr, besonders ihren Gesang. Er freute sich, aus dem Fluge einen Vogel zu erraten, und wenn die Stimmen in dem Gebüsche oder im Walde ertönten, konnte er alle die Sänger herzählen, von denen sie strömten. Er lehrte dies ein wenig auch Mathilden und fragte sie bei manchem Laute, woher er rühre. Ich hatte die Vorschriften der Mutter nie überschritten, und Mathilde gewann an Schönheit des Aussehens und an Gesundheit durch diese Spaziergänge. So wie die Mutter im Sommer und Herbste sie mit uns hatte herum gehen lassen, so ließ sie sie jetzt mit uns fahren. Sie saß zwei Tage uns gegenüber. Es war am Morgen und Abende noch ziemlich kühl. Ich hatte einen Mantel, und Alfred war in einen warmen Überrock geknöpft. Mathilde hatte über ihr dunkles Wollkleid, aus dem nicht einmal die Spitzen ihrer Schuhe hervorsahen, ein Mäntelchen, das ihren ganzen Oberkörper bis an das Kinn verhüllte, auf dem Haupte hatte sie einen warmen, wohlgefütterten Hut, dessen weite Flügel sich wohl anschmiegten, so daß nichts, als beinahe nur die Wangen, welche in der Märzluft noch röter geworden waren, und die glänzenden Augen hervorsahen. Wir beredeten, was wir in dem nächsten Sommer vornehmen wollten. Der Hauptinhalt unserer Gespräche aber war, daß alles, was uns auf unserem Wege oder in dessen Nähe begegnete, bemerkt wurde, daß wir es nannten und darüber sprachen. So kamen wir endlich bei heiterem und klarem Märzwetter in Heinbach an. Die Bäume vor den Fenstern hatten noch kein Laub, der Garten war öde und die Felder waren noch nicht grün, außer dort, wo sie die Wintersaaten trugen.«