Die festlichen Kleider wurden nun abgelegt, und es begann das Besuchsleben, wie es in ähnlichen Verhältnissen und namentlich, wenn man in so nahe Beziehungen getreten ist, der Fall zu sein pflegt. Mathilde führte nach und nach den Vater und die Mutter in alle Teile des Schlosses, des Gartens, des Meierhofes, der Felder, der Wiesen und der Wälder. Sie zeigte ihnen alle Zimmer des Hauses: ihre Wohnzimmer, die Zimmer mit den alten Geräten, sie zeigte ihnen die Bilder und was sich nur immer in dem Schlosse befand. Sie ging mit ihnen in den Garten: zu den Linden, zu allen Obstbäumen, zu den Blumenbeeten, in die Grotte mit der Brunnennymphe, auf die Eppichwand und in jede Anlage, die in dem Garten enthalten war. Ebenso wurde alles, was sich auf die Landwirtschaft bezog, auf das Genaueste durchgenommen. Gegen den Abend, wenn die Sonnenstrahlen milde auf die blühende Erde leuchteten, wurde ein gemeinschaftlicher Gang durch irgend einen Teil der Gegend gemacht. Wiederholt gingen wir die ganze Länge des Berührweges durch, und die Eltern fanden Gefallen an dieser Bahn, die eine freie und rüstige Bewegung in trüben Tagen so wie im Winter auf eine angenehme Weise gestatte. Der Vater konnte über alles der Freude und des Lobes kein Ende finden. Mathilde und die Mutter sprachen oft lange und immer sehr freundlich mit einander, sie tauschten wahrscheinlich ihre Ansichten über Häuslichkeit und Verwaltung des Zugehörigen aus. Natalie und Klotilde waren fast unzertrennlich, sie schlossen sich an einander an, bezeugten sich jede Innigkeit, und oft, wenn wir alle in das Schloß zurückgekehrt waren, gingen sie noch auf einem einsamen Wege des Gartens oder auf einem Pfade des nächstgelegenen Feldes herum.
»Siehst du, Klotilde«, sagte ich, »ich konnte dir kein Bild von Natalie bringen, weil keins da war, jetzt hast du sie selber.«
»Um wie viel lieber als jedes Bild«, antwortete sie, »aber ein Bild muß doch ausgeführt werden, damit man später wisse, wie sie in diesen Jahren ausgesehen habe.«
Acht Tage entließ uns Mathilde nicht von dem Sternenhofe, und jeder Tag fand seine freundliche Beschäftigung. Am neunten wurden die Anstalten gemacht, daß wir alle in das Rosenhaus abreisen konnten. Mathilde und die Eltern fuhren in unserem Reisewagen. Natalie, Klotilde und ich in dem Wagen Mathildens.
Als wir den Hügel hinanfuhren, konnte mein Vater seine Neugierde kaum mehr bemeistern. Ich sah ihn öfter in dem Wagen aufstehen und herumblicken. Es war ein wolkig heiterer Tag, Strichregen gingen auf entferntere Wälder nieder, Sonnenblicke schnitten goldne Bilder auf den Hügeln und Ebenen aus, und das Haus meines Gastfreundes schaute sanft von seiner Anhöhe hernieder. Obwohl, da wir von der Stadt abfuhren, dort bereits alles in Blüte stand, war in der Umgebung des Rosenhauses trotz der Zeit, die wir auf der Reise und in dem Hause Mathildens zugebracht hatten, doch noch die Baumblüte nicht vorüber, sondern sie war erst in ihrer vollen Entfaltung. Denn das Land hier lag um ein Bedeutendes höher als die Stadt. Ein Teil des Wintergetreides stand auf dem Hügel in üppigstem Wuchse, ein Teil schickte sich dazu an, das Sommergetreide keimte hie und da, und hie und da war noch die braune Erde zu sehen.
Mein Gastfreund hatte durch Mathilden Nachricht von unserer Ankunft erhalten. Als wir bei dem Gitter anfuhren, stand er mit Gustav, Eustach, Roland, mit der Haushälterin Katharine, mit dem Hausverwalter, mit dem Gärtner und anderen Leuten auf dem Sandplatze vor dem Gitter, um uns zu empfangen. Wir stiegen aus, und da standen sich nun mein Vater und mein Gastfreund gegenüber. Der letztere hatte schneeweiße Haare, mein Vater etwas minder weiße, aber liebe, ehrwürdige Männer waren beide. Sie reichten sich die Hand, sahen sich einen Augenblick an und schüttelten sich dann ihre Rechte herzlich.
»Seid mir gegrüßt, seid mir tausendmal gegrüßt an meiner Schwelle«, sagte mein Gastfreund, »selten ist hier einer eingegangen, der so willkommen gewesen wäre wie ihr, und selten habe ich mich nach jemandem so gesehnt wie nach euch. Wir sind nun so lange in Verbindung und ich habe euch schon so lange in der Liebe eures Sohnes geliebt.«
»Ich euch in der Liebe eures jungen Freundes«, erwiderte mein Vater, »es ist einer meiner liebsten Tage, der mich unter dieses Dach bringt. Ich komme in das Haus des Mannes, den ich durch meinen Sohn kenne, obgleich ich auch den Staatsmann hochachten muß. Ich komme mit der Schuld des Dankes belastet. Ihr habt mich ausgezeichnet, ehe ich es nur im geringsten Maße um euch verdient hatte.«
»Laßt das jetzt, es machte mir ja selber Freude«, entgegnete mein Gastfreund, »aber seht, so begeht man Fehler, wenn man von einer Leidenschaft befangen ist, besonders, wenn zwei alte Altertumsfreunde zusammentreffen. Ich habe versäumt, eurer verehrtest Gattin meinen ersten Gruß darzubringen, wie es Pflicht gewesen wäre. Aber, teure Frau, ihr werdet es, wenn auch nicht ganz entschuldigen, doch als ein geringeres Vergehen ansehen, als eine andere Frau, da ihr euren Gatten und seine Beziehungen zu seinen Schätzen kennt. Seid mir gegrüßt, und wenn ich sage, daß ich euch nicht minder als euren Gatten hieher gewünscht habe, so sage ich die Wahrheit, und euer eigener Sohn ist gegen euch Zeuge, wenn ihr meine Worte bezweifeln wolltet. Es freut mich, euch in mein Haus führen zu können, erlaubt, daß ich eure Hand fasse. Mathilde, Natalie, Heinrich, ihr müsset heute etwas Nebensache sein, und dieses Fräulein, das ich wohl schon als Klotilde kenne, wird erlauben, daß ich sie auch ein wenig liebe und um Gegenneigung bitte. Gustav, führe das Fräulein.«
»Gönnt mir die Gnade, euch führen zu dürfen«, sagte Gustav zu Klotilden.
Sie sah den Jüngling sanft an und sagte: »Ich bitte um die Gefälligkeit.«
»Ehe wir gehen«, sagte mein Gastfreund noch, »sehet noch hier meine zwei ausgezeichneten Künstler Eustach und Roland, die mit mir in unserem Besitze leben, den ich Sorgenfrei nennen würde, wenn er nicht voll von Sorgen steckte. Sie wollen euch vor dem Hause begrüßen. Seht da auch meine Katharine, die das Haus zusammenhält, und dann meinen Hausverwalter und Gärtner und Andere, welche die Lust des Empfanges nicht missen wollten.«
Mein Vater reichte jedem die Hand, und die Mutter und Klotilde verbeugten sich auf das Artigste.
Hierauf nahm mein Gastfreund den Arm meiner Mutter, mein Vater den Mathildens, ich Nataliens, Gustav Klotildens, und so gingen wir bei dem Eisengitter in den Garten und in das Haus. Die Wägen fuhren in den Meierhof. In dem Hause wurden wir gleich in unsere Zimmer geführt. Mathilde und Natalie gingen in ihre gewöhnliche Wohnung. Für meinen Vater und für meine Mutter war ein Aufenthalt von drei Zimmern eigens gerichtet worden. Sie hatten sehr schöne Wandbekleidungen und vorzügliche Geräte. Für alle und jede Bequemlichkeit war gesorgt. Klotilde hatte ein zierliches blaßblaues Zimmerchen daneben. Ich ging von der Wohnung meiner Eltern in meine Zimmer, welche die gewöhnlichen waren. Gustav besuchte mich hier in dem ersten Augenblicke, und umschlang mich mit der größten Freude und Liebe.
»Nun ist doch alles sicher und gewiß«, sagte er.
»Sicher und gewiß«, entgegnete ich, »wenn Gott sein Vollbringen gibt. Jetzt bist du mein teurer, vielgeliebter Bruder in der Tat, wenn du es auch der Fassung nach erst in einiger Zeit wirst.«
»Darf ich auch du sagen?« fragte er.
»Von ganzem Herzen«, erwiderte ich.
»Also du, mein geliebter, mein teurer Bruder«, sagte er.
»Auf immer, so lange wir leben, was auch, sonst für Zwischenfälle kommen mögen«, sagte ich.
»Auf immer«, antwortete er, »aber jetzt kleide dich schnell um, damit du nicht zu spät kommst. Man wird in dem Besuchsaale zu ebener Erde noch einmal zu einem Gruße zusammenkommen, ehe man zum Mittagessen geht. Ich muß mich selber zurecht richten.«
Es war so, wie Gustav gesagt hatte, und es war an alle die Einladung ergangen. Er verließ mich, und ich kleidete mich um.
Wir versammelten uns in dem Besuchzimmer zu ebener Erde, in welchem ich, da ich das erste Mal in diesem Hause war, allein gewartet hatte, während mein Gastfreund gegangen war, ein Mittagessen für mich zu bestellen. Ich hatte damals den Gesang der Vögel hereingehört. Der eingelegte Fußboden war heute mit einem sehr schönen Teppiche ganz überspannt. Auch Eustach und Roland waren zu der Versammlung eingeladen worden.