Salbungsvoll begann Husathirn Mueri zu sprechen:
„Dawinno lenke dich, Nialli Apuilana! Nakhaba erhalte dich und sei dir hold!“
„Verschone mich mit derlei verlogenem Honigbrei“, gab sie scharf zurück. „Du brauchst meine Hilfe bei einer Übersetzung, sagt dein Büttel. Was soll ich übersetzen?“
Er wies auf den Fremden. „Die Wächter haben ihn vor kurzem hergebracht. Er spricht nur Hjjk und ein paar Brocken unsrer Sprache. Also dachte ich, du erinnerst dich vielleicht noch an genug Wörter aus der Sprache des Wanzen-Volks und könntest mir übersetzen, was er sagen will.“
Sie blickte Husathirn Mueri kalt und abweisend an. „Sprache des Wanzen-Volkes?“
„Äh. Ach so, tut mir leid. Ich meine natürlich die Sprache der Hjjks.“
„Ich empfinde die andere Bezeichnung als beleidigend.“
„Bitte um Euren Pardon, Edle. Ehrlich. Es ist mir einfach so herausgerutscht. Es soll nicht wieder geschehen.“ Er schien sich geradezu zu winden und sah ehrlich bekümmert aus. „Würdest du dann mit ihm sprechen? Jetzt? Und bitte versuche herauszufinden, warum er zu uns gekommen ist.“
„Ich will mich bemühen“, antwortete sie eisig.
Sie trat zu dem Fremden, stellte sich ihm gegenüber auf, so nahe, daß auch sie in dem Lichtkegel stand und die Spitzen ihrer Brüste beinahe den Nest-Schutz berührten, der ihm auf der Brust hing. Und er hob die Augen und blickte sie an.
Er war älter, als sie zunächst geglaubt hatte. Aus der Ferne hatte er kaum reifer als ein Knabe gewirkt; dies war aber wohl auf seinen fragilen Körperbau zurückzuführen, denn er mußte mindestens so alt sein wie sie, vielleicht sogar ein, zwei Jahre älter. Aber er trug eben kein Gran Fett am Leib und war auch erbärmlich wenig muskulös.
Bei einer Diät von Körnern und Trockenfleisch wird man so. Nialli Apuilana wußte das, weil sie es selbst so erlebt hatte.
Der Fremdling hatte höchstwahrscheinlich jahrelang bei den Hjjks gelebt. Lang genug jedenfalls, daß sein Leib von ihrer kargen Kost geformt werden konnte. Er hatte auch die steife spröde Haltung eines Hjjk, als wären der Pelz und das Fleisch an ihm nur eine Hülle, die die hagere Insektengestalt darunter verbarg.
„Also, sprich schon mit ihm.“
„Einen Augenblick. Ich brauche noch einen Augenblick.“
Sie zwang sich zur Konzentration. Der Anblick der Hjjk-Talismane an seinem Handgelenk und auf seiner Brust hatte tiefe Gefühle in ihr aufgewühlt. Und sie war dermaßen aufgeregt, daß es ihr unmöglich war, auch nur eine einzige Silbe der Hjjk-Sprache hervorzubringen, von dem wenigen, das sie vor Jahren gelernt hatte.
Die Hjjks verständigten sich auf vielerlei Weise. Sie hatten eine gesprochene Sprache: die Klick-, Summ-, Zirp- und Zischlaute, aus welchem Grund das VOLK sie mit dem Namen ‚Hjjks‘ bezeichnete.
Aber sie waren auch fähig, miteinander — und mit Angehörigen des VOLKES, wenn sie ihnen begegneten — in einer stummen Sprache des Bewußtseins, ganz so als sprächen sie unsichtbar-unhörbar auf einer zweiten Ebene. Außerdem verfügten sie auch noch über ein hochentwickeltes Kommunikationssystem vermittels chemischer Absonderungen, einen Geruchssignalcode.
Während ihres Aufenthaltes im NEST hatte Nialli Apuilana hauptsächlich per Mentalsprachtransfer mit den Hjjks kommuniziert. Sobald sie diese Methode anwandten, konnten die Hjjks sich ihr völlig klar verständlich machen und umgekehrt begreifen, was sie ihnen sagte. Es war ihr dann gelungen, einige hundert Wörter der gesprochenen Sprache zu lernen, doch inzwischen hatte sie sie großenteils wieder vergessen.
Und die chemosekretorische Kommunikationsform war ihr sowieso ein Buch mit siebzehn Siegeln geblieben.
Um das endlos scheinende lastende Schweigen zu brechen, hob sie die Hand und berührte sacht den NEST-Schutz an der Brust des Fremdlings, neigte sich ihm zu und lächelte ihn dabei freundlich an.
Fast war es, als zucke er zurück. Doch er hielt stand und sagte etwas in der scharfen Hjjk-Sprachfärbung zu ihr. Sein Gesicht war düster-starr. Es schien nicht imstande, den Ausdruck zu wechseln. Es war wie etwas aus Holz Geschnittenes.
Wieder berührte sie den NEST-Schutz auf seiner Brust, dann ihre eigene Brust.
Dann schossen plötzlich ein paar Hjjk-Worte in ihr auf, und sie sprach sie — mit einigen Kehllautschwierigkeiten — halberstickt aus. Es klang wie ein Gurgeln. Es waren aber die Worte für NEST, KÖNIGIN und NESTFÜLLE.
Der Fremde verzog die Lippen in einer Grimasse, die beinahe ein Lächeln hätte sein können. Oder vielleicht war es ein echtes Lächeln, das nicht umhin konnte, wie eine Grimasse auszufallen.
Liebe, sprach er in der Sprache des VOLKES. „Frieden.“
Ein Anfang war gemacht, immerhin.
Aus irgendeinem Hirnwinkel flossen ihr weitere Hjjk-Wörter zu: die Begriffe NEST-Stärke, KÖNIGIN-Weg, DENKER-Denken.
Der Fremde entkrampfte sich.
„Liebe“, sagte er noch einmal. „Königin-Liebe.“
Er hob die geballten Fäuste, als ringe er um weitere Wortbegriffe der Sprache des VOLKES, die seit langem in tieferen Schichten seines Bewußtseins verschüttet gelegen hatten. Das schmale Gesicht drückte schmerzliche Anspannung aus.
Schließlich krächzte er ein weiteres Hjjk-Wort, das sie als ungefähres Äquivalent für ‚Fleischlinge‘ erkannte, der Begriff, den die Hjjks als Bezeichnung für das VOLK verwendeten.
„Was sprecht ihr zwei da miteinander?“ verlangte Husathirn Mueri zu wissen.
„Soweit nichts von Bedeutung. Ich versuche nur, erst einmal Kontakt aufzubauen.“
„Hat er dir gesagt, wie sein Name ist?“
Sie warf ihm einen verächtlichen Blick zu. „In der Hjjk-Sprache gibt es kein Wort für Namen. Sie haben keine Eigennamen als Personen.“
„Könntest du ihn dann fragen, wozu er hergekommen ist?“
„Das versuche ich doch! Siehst du das denn nicht?“
Aber es war hoffnungslos. Zehn Minuten lang ackerte sie unentwegt weiter, um einen Durchbruch zu erlangen. Ohne Erfolg.
Sie hatte sich von dieser Begegnung so viel erhofft. Sie sehnte sich verzweifelt _ danach, mit diesem Fremden ihre Nest-Zeit wiederaufleben zu lassen. Über Königin-Liebe und Nest-Stärke mit ihm zu reden und über alle jene anderen Dinge, die zu erfahren sie während ihrer zu kurzen Gefangenschaft kaum die Chance gehabt hatte: Dinge, die ihre Seele ebenso gewiß geformt hatten, wie die karge Hjjk-Nahrung den hageren Leib dieses Fremden da gestaltet hatte. Doch die Hürden zwischen ihnen waren widerwärtig hoch.
Anscheinend waren sie unüberwindlich. Sie vermochten beide nichts weiter zu tun, als einander unzusammenhängende Worte und Ideenfetzen zuzustottern. Hin und wieder schien es, als kämen sich ihre Bewußtheiten nahe, und dann erhellten sich die Augen des Fremdlings, und auf seinem Gesicht zeigte sich sogar der Anflug eines Lächelns, aber dann stießen sie erneut an ihre Begriffsgrenzen, und die trennende Wand wuchs wieder zwischen ihnen auf.
„Kommst du voran?“ fragte Husathirn Mueri nach etlicher Zeit.
„Nein. Kein bißchen.“
„Du kannst nicht einmal erraten, was er sagen will? Ode wozu er hergekommen ist?“
„Er ist als eine Art Gesandter gekommen. Soviel scheint mir sicher zu sein.“
„Hast du dafür einen handfesten Hinweis, oder ist es bloße Vermutung?“
„Siehst du die Stücke von Hjjk-Schalen an ihm? Das sind Abzeichen für hohe Autorität“, sagte sie. „Das Stück auf seiner Brust heißt NestSchutz und ist aus dem Panzer eines toten Hjjkkriegers gefertigt. Man hätte ihm nie gestattet, es aus dem Nest zu entfernen, es sei denn zum Zeichen, daß er in einer Sondermission unterwegs ist. Es ist gewissermaßen der Häuptlingsmaske bei uns vergleichbar. Der andere Schmuck, der Armreif, war vielleicht das Geschenk seines NestDenkers und sollte seine Gedankenkonzentration steigern. Die arme verirrte Seele, es nützt ihm nicht viel, nicht wahr?“