„Nest-Denker?“
„Sein Mentor. Sein Lehrer. Verlang doch nicht, daß ich das alles jetzt erkläre. Für dich sind sie ja sowieso nur Wanzen.“
„Ich sagte dir schon, daß es mir leid tut.“
„Ja, du hast gesagt, es tut dir leid. Jedenfalls, er ist bestimmt mit einer besonderen Botschaft hergekommen, und das bringt nicht bloß das verschwommene, nebulöse Zeug, das uns Heimkehrer berichten, wenn sie überhaupt was sagen. Aber er kann nicht in unserer Sprache sprechen. Er muß seit seinem dritten oder vierten Lebensjahr im Nest gewesen sein, und er kann sich kaum noch an ein Wort unsrer Sprache erinnern.“
Husathirn Mueri strich sich nachdenklich den Backenpelz.
Nach einer Weile fragte er: „Hast du irgendeinen Vorschlag?“
„Nur das Offensichtliche. Laß meinen Vater rufen.“
„Ja, kann denn der Chronist Hjjk sprechen?“ fragte Curabayn Bangkea.
„Idiot! Der Chronist hat doch den Wunderstein Barak Dayir!“ sagte Husathirn Mueri. „Natürlich! Er braucht ihn nur ganz leicht zu berühren, und alle Rätsel lösen sich!“
Er klatschte in die Hände. Der feiste Gerichtsbüttel erschien.
„Suche Hresh. Und lade ihn vor.“ Er blickte sich um. „Ich vertage, bis Hresh erscheint.“
Der Chronist befand sich zu eben dieser Stunde in seinem naturhistorischen Garten, der im westlichen Quadranten der Stadt lag, und überwachte die Ankunft seiner Caviandis.
Vor vielen Jahren hatte Hresh in einer Vision das Vengiboneeze der Großen Welt besucht und dort eine Örtlichkeit mit dem Namen der ‚Lebensbaum‘ betreten. Dort hatten die Saphiräugigen allerart wildlebende Geschöpfe gesammelt und sie in Kammern gesteckt, die ein Abbild ihrer natürlichen Lebensumgebung nachahmten. In schrecklicher Scham und Betrübnis hatte Hresh in seinem Traum dort unter den eingesperrten Tieren auch seine eigenen Vorfahren gefunden. Und so hatte er über jeden Zweifel an jenem Tage die Erkenntnis erlangt, daß sein VOLK, das sich einstmals für die Menschen hielt, in keiner Weise etwas so Hocherhabenes war, sondern daß sie in den Tagen der Großen Welt ebenfalls als nichts weiter als Tiere angesehen worden waren, die man einfing und in Käfigen hielt.
Nahezu alle Geschöpfe, die Hresh damals bei seiner Wanderung in die ferne Vergangenheit gesehen hatte, waren während des Langen Winters ausgelöscht worden, und ihre Art war für immer von der Erde verschwunden. Auch der Sammlungsort ‚Lebensbaum‘ war längst zu Staub zerfallen. Aber Hresh hatte sich einen eigenen Baum des Lebens gepflanzt, in der Stadt Dawinno über der stillen Meeresbucht: einen labyrinthischen Garten, in dem Geschöpfe aus allen Regionen des Kontinents versammelt wurden, auf daß er sie studieren könne. Er hatte da Kreaturen, die übers Wasser schreiten konnten, Trommlerbäuchlinge, Tänzerhörner und eine große Schar andrer Wesen, denen das VOLK auf seiner Wanderschaft über das Antlitz der Erde nach dem Aufbruch aus dem urelterlichen Kokon begegnet war. Er hatte Exemplare von blauhaarigen Langbein-Stinchitolen, die über ein Hirnverbindungsystem verfügten, das er in seinen Tiefenbereichen noch kaum zu erforschen begonnen hatte. Und Hresh hatte Scharen von kurz- und dickbeinigen rötlichen Dürftlingen. Er hatte die rosa langmäuligen Strickwürmer, die länger waren, als ein Mann groß war, die im dampfenden Schlick der Seesümpfe beheimatet waren. Er hatte die Kmurs und die Crispalls und die Stanimander in seiner Sammlung. Und Gabools. Und Streptors. Er hatte einen Trupp der affenähnlichen grünen Spottfiguren, die auf Bäumen lebten und die das VOLK gröblich mit ihren Exkrementenwürsten beworfen hatten, als man nach Vengiboneeza einzog.
Und nun hatte er sogar ein Caviandi-Pärchen, das soeben aus dem Sumpfland zu ihm gebracht worden war.
Er würde an dem Wasserlauf, der den Garten durchfloß, ein bequemes Habitat für sie einrichten, in den Bach würden ihre Lieblingsfische ausgesetzt werden, und sie würden ausreichend Platz haben für die Höhlenbauten, in denen sie zu leben liebten. Und sobald sie sich an das Leben in der Gefangenschaft gewöhnt hatten, wollte Hresh versuchen, vermittels des Zweiten Gesichts, falls nötig unter Verwendung des Wundersteines, in ihr Bewußtsein einzudringen. Er wollte ihre Seelen betasten, sofern sie so etwas wie Seele besaßen, und ihre Tiefen auszuloten versuchen.
Die Caviandis hockten bebend nebeneinander in ihrem Transportkäfig und starrten ihn aus riesigen flachen Augen voll Elend und Angst an.
Hresh erwiderte seinerseits diese Blicke mit faszinierter Neugier. Es waren grazile, elegante Tiere, und zweifellos besaßen sie Intelligenz. Und deren genauen Grad beabsichtigte er herauszufinden. Die Lektion, die er in dem alten Lebensbaum-Park der Großwelt gelernt hatte, war schließlich die, daß Intelligenz sich bei vielerlei Geschöpfen zeige.
Es gab Angehörige des Volkes, die — wie Hresh wußte — auf die Caviandis wegen ihres Fleisches Jagd machten. Angeblich sollten sie recht schmackhaft sein. Doch dem würde man ein Ende machen müssen, sollte es sich erweisen, daß der Helligkeit ihrer Augen ein vergleichbar reicher Intellekt entsprach. Eine Art Schutzgesetz vielleicht — sicher unpopulär, aber notwendig.
Er fühlte sich versucht, gleich jetzt rasch eine Sondierung, einen ersten Test ihres Bewußtseins vorzunehmen. Nur um einen allgemeinen Eindruck zu erhalten.
Er lächelte den zitternden Tieren beruhigend zu und richtete sein Sensororgan auf, um nur für einen Moment, für einen kurzen Einblick das Zweite Gesicht einzusetzen.
„Edler? Euer Gnaden Chronist?“
Die Störung war heftig, wie ein Schlag in die Nieren. Hresh wirbelte herum und erblickte einen seiner Helfer und neben ihm einen klobigen Kerl, der die Schärpe eines Büttels vom Gericht trug.
„Was ist denn?“
Der Büttel stolperte vorwärts. „Um Vergebung, gnädiger Chronist, aber ich habe eine Botschaft vom Gericht zu überbringen, von Husathirn Mueri, derzeit amtierender Richter in der Basilika. Ein Fremdling wurde ergriffen, ein junger Mann, der anscheinend aus der Gefangenschaft bei den Hjjks zurückgekehrt ist, und der versteht keine Sprache und gibt nur dieses Gezische der Wanzenleute von sich. Und so ersucht Prinz Husathirn Mueri dich respektvoll. also, ob du ihm vielleicht helfen könntest — vielleicht dich in die Basilika bemühen und bei dem Verhör mitwirken könntest.“
Man hatte sie für die Dauer der Vertagung in eine Verwahrzelle gebracht, wo sie warten sollte, einen schweißdumpfen kleinen Raum, der sich nicht wesentlich von den Zellen unterschied, in denen man die Verbrecher warten ließ, bis der Prinz-Richter sich ihrem Fall zuzuwenden geruhte; den Hjjk-Abgesandten hatten sie in eine ähnliche Zelle auf der anderen Seite der Kuppel gesteckt. Nialli Apuilana hatte gemeint, es wäre doch vielleicht nützlicher, wenn man sie beide im selben Raum auf Hresh warten ließe, auf daß sie ihre Kommunikationsversuche fortsetzen könnten, bis Hresh eintreffen würde, aber nein, nein, sie geht in die Zelle, der in jene andere! Sie begriff mit einiger Verblüffung, daß Husathirn Mueri offensichtlich nicht genug Vertrauen zu ihnen beiden hatte, als daß er sie irgendwo unbeaufsichtigt alleinzulassen wünschte. Darin zeigte sich einmal mehr, wie kleinlich und erbärmlich argwöhnisch er in seinem Herzen war. Wie klein und bürokratisch, wie ein Plebejer!
Sie fragte sich: Ahnt er vielleicht, daß es zwischen uns eine Nestbindung gibt? Befürchtet er, wir könnten eine konspirative staatsfeindliche Aktion ausbrüten, wenn man uns die Möglichkeit gibt, eine Stunde allein in einer gemeinsamen Zelle zu verbringen? Oder fürchtet er ganz primitiv, wir könnten die Zeit zu ein paar verschwitzten Kopulationsübungen verwenden? Eine absurde Vorstellung. Der Fremdling — klapperdürr und Haut und Knochen — sollte die kurze Zeit zwischen den Verhören dazu benutzen, um sich in sexueller Rage auf sie zu stürzen? Sie fand ihn ganz und gar nicht attraktiv. Doch war es für Husathirn Mueri wohl gar nicht so abwegig, so etwas zu argwöhnen. Was glaubt der denn eigentlich, wer ich bin? fragte sie sich.