Wütend stapfte sie in dem schmalen keilförmigen Gemach umher, bis sie dessen Ausmaße fünfzigmal bemessen hatte. Sodann ließ sie sich auf einer schwarzen Steinbank unter einer Nische nieder, in der ein Ikon Dawinnos-des-Verwandlers stand, lehnte sich zurück und faltete die Arme über den Brüsten. Sie war jetzt etwas ruhiger. Sog aus ihrem Selbst Geduld herauf. Es konnte schließlich lang dauern, ehe der Gerichtsdiener ihren Vater aufgespürt hatte.
Als sie allmählich ruhiger wurde, überkam sie mehr und mehr ein traumhaftes Gefühl. Etwas Seltsames hob sich nun in ihr. Visionen schweben durch ihr Gehirn. Das NEST? Ist es das? Ja. Von Atemzug zu Atemzug klarer, als würden dünne Stoffhüllen Schicht um Schicht weggezogen. Alte Erinnerungen erwachen wieder aus langem Schlaf. Was hat sie in Bewegung gesetzt? Der Anblick der Amulette an seiner Brust, an seinem Arm? War es das? Die Nest-Aura, die er mit sich trug und die einzig sie allein zu sehen vermochte?
Sie hört ein Rauschen, ein Dröhnen in sich. Und dann ist sie dort. In jener Anderwelt, in der sie die merkwürdigsten drei Monde ihres Daseins verbracht hat, und sie ist leibhaftig wieder lebendig für sie.
Alle umdrängen sie in dem engen Tunnelgang, heißen sie nach der langen Abwesenheit willkommen, fahren ihr sanft mit den Klauen über das Fell, um sie zu grüßen: ein Halbdutzend Wärter der Königin, ein Paar Ei-Macher und ein Nest-Denker, und eine Handvoll Militär. Der scharftrockene Duft, den sie absondern, klirrt in ihren Nüstern. Die Luft ist warm und lastend. Das Licht — ein schwaches rosiges Glühen, das vertraute angenehme Nest-Licht, dünn, aber ausreichend. Sie umarmt alle, einen nach dem anderen, und schmeckt genießerisch die Berührung ihrer zweigetönten Panzer und der schwarzborstigen Vorderarme. Wie schön, wieder bei euch zu sein, sagt sie zu ihnen. Danach habe ich mich gesehnt, seit ich von hier fortging.
In diesem Moment gibt es am Ende des langen Durchgangs eine Turbulenz: ein Prozessionszug der jungen Männer ist es, und sie schubsen und drängen einander. Sie sind unterwegs in das königliche Gemach, um dort durch die Berührung der Königin zur Zeugungsfähigkeit stimuliert zu werden. Es ist das letzte Stadium in ihrem Reifungsprozeß. Endlich werden sie zur Paarung zugelassen sein, sobald die Königin getan hat, was immer zu tun ist, um die Jugend zur Fruchtbarkeit zu bringen. Nialli Apuilana beneidet diese Jugend darum.
Aber reif ist ja auch sie selbst. Bereit für die Partnerschaft, bereit für die Erweckung des Lebensfunkens in ihr, bereit, die ihr bestimmte Rolle im Ei-Plan zu spielen. Die Königin muß das wissen. Die Königin weiß alles. Bald, denkt Nialli Apuilana, bald schon, an einem der nächsten Tage, bin ich an der Reihe und darf vor die Königin treten, und Ihre Liebe wird sich über mich ausgießen, und meine Lenden werden üppig und fruchtbar lebendig werden durch Ihre Berührung. und schließlich. am Ende. werde auch ich.
. auch ich werde.
„Edle, das Gericht tagt weiter.“ Die Stimme sägte durch sie hindurch wie eine stumpfe rostige Klinge.
Sie öffnete die Augen. Vor ihr stand ein Gerichtsdiener, es war ein anderer als zuvor. Sie funkelte ihn dermaßen wildwütend an, daß es ein Wunder war, wenn ihm nicht der Pelz vom Leib weggesengt wurde. Aber der Kerl stand bloß da und gaffte stupide. „Edle, die wollen, daß du wieder.“
„Ja. Aber ja doch! Meinst du, ich hab dich nicht verstanden?“
Hresh schien noch nicht eingetroffen zu sein. Alles war wie vorher, mehr oder weniger. Der Fremde stand genau im Zentrum des Raums, vollkommen bewegungslos, als wäre er seine eigene Statue. Er schien kaum zu atmen. Das war ein Hjjk-Trick. Diese Leute verschwendeten keine Energie. Ohne Grund bewegten sie sich überhaupt nicht.
Husathirn Mueri hingegen war ständig in Bewegung. Er schlug die Beine übereinander und entflocht sie dann wieder; er rutschte unruhig herum, als würde der Thron unter ihm plötzlich eisigkalt oder glühendheiß; er zuckte mit dem Sensororgan umher, rollte es bald um die Schienbeine, bald krümmte er es hinter sich hoch, so daß die Spitze ihm über die Schulter lugte. Sein intensiver Bernsteinblick irrte in alle Richtungen in dem großen Saal, außer zu Nialli Apuilana; aber dann plötzlich ertappte sie ihn wieder mit einem dieser gierig-saugenden Blicke. Aber sobald sich ihre Augen trafen, schaute er beiseite.
Seltsamerweise empfand sie irgendwie Mitleid mit ihm. Weil er dermaßen gehetzt war, so gereizt. Man sagte, daß seine Mutter, Torlyri, von geradezu heiligmäßiger Liebenswürdigkeit gewesen sei und sein Vater der ehrenhafteste Krieger. Aber Husathirn Mueri wirkte nicht im geringsten wie ein Heiliger, und Nialli Apuilana bezweifelte stark, daß er sich in einem Kampf auf dem Schlachtfeld hervortun würde. Er war wohl kaum ein würdiger Nachfahr seiner Älteren. Vielleicht trifft es ja wirklich zu, dachte sie, was die alten Leute immer so gern plappern, daß wir in unserem modernen Zeitalter der Verstädterung zu einer richtungslosen, angstgetrieben Masse geworden sind, völlig ohne klare Orientierung im Leben. Schwächlinge also, dekadent.
Aber ist das wirklich so, überlegte sie. Sind wir innerhalb einer einzigen Generationenfolge vom Primitivismus zu schwächlicher Dekadenz gelangt? All diese endlosen Zeiten eingesperrt im Kokon, kaum eine Änderung, und dann brechen wir aus und errichten uns eine gewaltige Stadt, und sozusagen über Nacht gehen alle unsere alten Tugenden verloren. unsere Gottähnlichkeit, unsere Würde?
Husathirn Mueri, dachte sie, ist vielleicht dekadent. Ich bin es vielleicht ebenfalls. Aber ist er ein Schwächling? Bin ich es?
„Der Chronist! Hresh-der-die-Antwort-weiß! Erhebe sich ein jeglicher vor dem Chronisten Hresh!“ Die blökende Hammelstimme des Gerichtsdieners, der nach Hresh ausgeschickt worden war.
Sie schaute sich um und sah ihren Vater in den Thronsaal treten.
Wie lange war das jetzt her, seit sie ihn zuletzt gesehen hatte? Sie wußte es nicht genau: Wochen sicher, vielleicht schon Monde. Es war nie so etwas wie eine deutliche Abkühlung zwischen ihnen eingetreten; es war nur einfach so, daß seine Wege und die ihren sich in letzter Zeit nur selten gekreuzt hatten. Er war beständig mit seiner Erforschung der vergangenen Welten befaßt und ging darin auf, und sie lebte ihr isoliertes, in gewisser Weise abwartendes Leben in den höheren Rängen des Nakhaba-Hauses und verspürte wenig Neigung oder sah kaum Gründe, in die innerstädtischen Viertel hinabzusteigen.
Sobald auch sie den Saal betreten hatte, wandte sich Hresh ihr zu, als wäre sie das einzige Wesen im Raum, und streckte ihr die Arme entgegen. Und sie flog ihm bereitwillig blitzschnell entgegen.
„Vater.“
„Nialli — ach, meine kleine Nialli.“
Er war in den wenigen Monaten seit ihrer letzten Begegnung stark gealtert, fast so, als lastete jede Woche wie ein ganzes Jahr auf ihm. Natürlich war er an einem Punkt seines Lebens angelangt, an dem die Zeit im Sausegalopp dahinrauschte. Einiges jenseits des fünfzigsten Jahres: ein alter Mann nach den durchschnittlichen Lebenserwartungen im VOLK. Sein Fell war schon lange ergraut. Nialli Apuilana, sein einziges, sehr spät geborenes Kind, konnte sich nicht erinnern, daß es je eine andre Färbung gehabt hätte. Seine schmalen Schultern waren gebeugt, die Brust eingefallen. Einzig seine riesigen dunklen scharlachgefleckten Augen, die wie Leuchtfeuer unter der breiten Stirn flammten, strahlten noch die Vitalität aus, die er in jenen längstvergangenen Tagen besessen haben mußte, als er — kaum mehr als ein Knabe — das VOLK aus dem ererbten Kokon der Vorfahren über die flachen Ebenen nach Vengiboneeza geführt hatte.