Sie umarmten sich ruhig, fast feierlich. Dann wich sie von ihm zurück, und ihre Blicke trafen sich kurz.
Hresh-der-die-Antwort-weiß hatte der Gerichtsdiener ihn genannt. Nun ja, so lautete sein voller Zeremonialname. Er hatte ihr einmal erzählt, daß er ihn sich an seinem Benamungstag selber gewählt hatte.
Zuvor, in seinen Knabentagen, hieß er Hresh-voller-Fragen. Beide Namen paßten gut zu ihm. Nirgendwo gab es einen Verstand wie den seinen — stets bohrend, immer suchend. Wahrhaftig, er war sicher der weiseste Mann auf der Welt. Dachte Nialli. Sagten alle.
Sie fühlte sich von seinen erstaunlichen Augen eingesogen, aufgezehrt, die Wunder und Rätsel gesehen hatten, welche sie kaum zu erfassen vermocht hätte. Hresh hatte die Große Welt im Leben gesehen. Er hatte ein Gerät in der Hand gehalten, das dies alles wieder herbeibrachte in inneren Gesichten, das ihm das gewaltige Volk der Saphiräugigen zeigte und die Seelords und die Mechanischen und all die anderen toten Rassen — sogar die Menschen, die das VOLK mit dem Namen ‚Traum-Träumer‘ bezeichnete in den Tagen des Kokons — diese rätselhaften verwirrenden Menschlichen, die Herrscher über die Erde gewesen waren, lang ehe irgendeine andere Art entstand, vor so unendlicher Zeit, daß man allein vom bloßen Drandenken ganz benommen wurde.
Hresh wirkte so sanft, so unauffällig — bis du ihm in die Augen schautest. Dann war er plötzlich furchteinflößend. Er hatte so vieles gesehen. So vieles erreicht. Alles, was aus dem VOLK seit dem Ende des Langen Winters geworden war, war durch Hreshs formendes Tun geschehen.
Er lächelte. „Welche Überraschung, dich hier zu treffen, Nialli.“
„Husathirn Mueri hat mich rufen lassen. Er glaubte, ich könnte die Sprache der Hjjks noch verstehen. Aber natürlich habe ich alles längst vergessen, alles, bis auf ein paar Brocken.“
Hresh nickte. „Man kann kaum erwarten, daß du dich erinnerst. Es war vor zwei Jahren, nicht wahr?“
„Drei, Vater. Beinahe vier.“
„Beinahe vier. Aber ja.“ Er gluckste vor sich hin, voll Nachsicht mit der eigenen Zerstreutheit. „Und wer wollte dir böse sein, daß du das aus deinem Gedächtnis verbannt hast. Einen derartigen Alptraum.“
Sie wandte den Blick ab. Er hatte nie verstanden, was sich bei ihrem Aufenthalt bei den Hjjks in Wahrheit ereignet hatte. Niemand hatte das verstanden. Wahrscheinlich würde es auch nie jemand verstehen können. Außer diesem schweigenden Fremdling da, und zu dem fand sie keinen brauchbaren Kommunikationsweg.
Husathirn Mueri kam vom Thronstuhl herab und führte den Fremden vor Hresh. „Er wurde am Mittag im Emakkis-Tal, auf einem Zinnobär reitend, aufgegriffen. Er stößt Hjjk-Laute aus, spricht aber auch einige Worte unsrer Sprache. Nialli Apuilana sagt, das sind Hjjk-Amulette an seinem Hals und Handgelenk.“
„Er sieht halbverhungert aus“, sagte Hresh. „Mehr als halb. Er ist ja nur noch ein wandelndes Skelett.“
„Weißt du nicht mehr, wie ich ausgesehen habe, Vater, als ich von den Hjjks zurückkam?“ fragte Nialli. „Man ißt sehr wenig bei den Hjjks. Dort bevorzugt man Knappheit, in der Nahrung, in allem. So sind sie nun einmal. Ich hatte dort die ganze Zeit Hunger.“
„So hast du auch ausgesehen, als du wieder da warst“, sagte Hresh. „Ich erinnere mich genau. Schön, vielleicht finden wir einen Weg, uns mit diesem jungen Mann zu verständigen. Im übrigen sollte man ihm zu essen geben. Wie wär’s, Husathirn Mueri? Etwas Nahrhaftes, damit er ein bißchen Fleisch auf seine Knochen bekommt. Aber sehen wir erst einmal, was wir tun können.“
„Wirst du den Wunderstein benutzen?“ fragte Husathirn Mueri.
„Den Wunderstein, ah ja. Den Barak Dayir.“ Hresh holte einen abgeschabten Samtbeutel aus einer Tasche seines Umhangs und zupfte an der Verschnürung. In seine Handfläche kullerte ein spitz zulaufendes poliertes Steinstück, wie eine sauber gearbeitete Speerspitze. Die Farbe war fleckiges Purpurbraun, und entlang den Kanten zog sich ein gekerbtes Muster komplizierter dünner Linien. „Keiner komme mir nahe!“ befahl Hresh.
Nialli zitterte. Sie hatte den Wunderstein höchstens fünf-, sechsmal in ihrem Leben zu Gesicht bekommen, und das war zuletzt vor vielen Jahren gewesen. Er war der erlesenste und kostbarste Besitz des VOLKES. Und niemand — nicht einmal Hresh selbst — wußte, was es war. Man sagte, er sei aus Sternenmaterial (was immer das heißen mochte). Und man sagte, der Stein sei älter noch als die Große Welt, ein Menschen-Ding, ein Instrument aus jener unbekannten fernen Welt, die da war, ehe die Saphiräugigen über die Erde herrschten. Vielleicht stimmte das ja. Das einzig Gesicherte war, daß Hresh herausgefunden hatte, wie man damit Wunder wirkte.
Nun schmiegte Hresh den Stein in die Biegung seines Sensororgans und faßte fest zu. Sein Gesichtsausdruck veränderte sich seltsam und wurde abweisend. Er rief jetzt sein Zweites Gesicht herauf und entfesselte die gewaltigen Kräfte seines Bewußtseins und konzentrierte sie in dieses seltsame Gerät namens Barak Dayir.
Der Fremde stand bewegungslos da, und seine Augen hafteten, ohne zu blinzeln, fest auf Hresh. Es waren ungewöhnliche Augen, von einem reinen leuchtenden Grün, wie das Wasser an den seichten Stellen der Dawinno Bay, aber viel kälter. Der Fremde schien ebenfalls in tiefer Konzentration gefangen, und wieder legte sich dieses merkwürdige halbe Lächeln auf sein Gesicht.
Hresh hatte die Augen geschlossen. Er schien kaum zu atmen. Er war in seinem eigenen Beschwörungszauber versunken, und sein Geist war völlig der Kraft des Barak Dayir überantwortet. Doch nach einer Ewigkeit sah man, daß er zurückkehrte. Es war sehr still im Saal.
„Sein Name lautet Kundalimon“, sagte Hresh.
„Kundalimon“, wiederholte Husathirn Mueri ernst, als besäße der Name für ihn irgendeine tiefe Bedeutung.
„Jedenfalls glaubt er das. Er ist sich da nicht völlig sicher. Er ist auch nicht völlig sicher, ob er weiß, was ein Name überhaupt ist. Unter den Hjjks hat er keinen Namen. Aber Spuren des Namens Kundalimon haften noch in seiner Erinnerung — wie die Reste der Grundmauern einer Ruinenstadt. Er weiß, daß er hier geboren wurde — vor siebzehn Jahren.“
Husathirn Mueri sprach leise zu dem Bütteclass="underline" „Geh ins Haus des Wissens. Überprüfe, ob sie dort irgendwelche Aufzeichnungen haben über ein verlorenes Kind namens Kundalimon.“
Hresh schüttelte den Kopf. „Nein. Laß das. Darum kümmere ich mich persönlich. Später.“ Er wandte sich wieder dem Fremden zu. „Wir werden dich lehren müssen, deinen Eigennamen zu kennen. In dieser Stadt hat jeder einen Namen, einen, der nur ihm ganz persönlich gehört.“ Und mit klarer hoher Stimme sagte er: „Kundalimon.“ Und zeigte auf den Jungen.
„Kundalimon“, wiederholte der Fremde, nickte und klopft sich auf die Brust. Etwas, das schon beinahe ein richtiges Lächeln war, lag auf seinem Gesicht.
Hresh berührte seine eigene Brust. „Hresh.“
„Hresh“, sprach der Fremde nach. „Hresh.“
Dann blickte er Nialli an.
„Er will auch deinen Namen wissen“, sagte Hresh. „Also, los. Sag ihn ihm.“
Nialli nickte. Aber zu ihrem Entsetzen war ihre Stimme nicht da, als sie sprechen wollte. Aus ihrem Hals kam nur ein Husten und ein gequältes heiseres Krächzen, das fast schon wie ein Hjjk-Laut klang. Bestürzt und beschämt riß sie die Hand vor den Mund.
„Sag ihm deinen Namen“, befahl Hresh erneut.
Stumm tippte sie sich mit den Fingerspitzen an die Kehle und schüttelte den Kopf.
Hresh schien sie zu verstehen. Er nickte Kundalimon zu und deutete auf seine Tochter. „Nialli Apuilana“, sprach er mit der gleichen klaren hohen Stimme wie zuvor.
„Nialli — Apuilana“, wiederholte Kundalimon sorgfältig und starrte sie dabei an. Die geschmeidigen Vokale und fließenden Konsonanten schienen ihm nicht leicht über die Lippen zu kommen. „Nialli. Apuilana.“