Sie wandte den Blick ab, als hatte sie sich an seinen Augen versengt.
Hresh nahm erneut den Barak Dayir, schloß die Augen und zog sich wieder in seine Trance zurück. Kundalimon stand bewegungslos wie eine Statue vor ihm. Es herrschte äußerste Stille im Raum.
Kurz darauf schien Hresh zurückzukehren, und nach einer Weile sagte er: „Wie seltsam sein Bewußtsein ist! Er hat bei den Hjjks gelebt, seit er vier Jahre alt war. Hat im großen Hauptnest gewohnt, dem Nest der Nester, hoch oben im Norden.“
Im Nest der Nester! In der Umgebung der Königin der Königinnen höchstselbst! Nialli verspürte eine Welle von Neid in sich aufsteigen.
Sie fand ihre Stimme wieder und fragte leise: „Und hast du erfahren, warum er hierher gekommen ist, Vater?“
In seltsam gedämpftem Ton antwortete Hresh: „Die Königin will einen Vertrag mit uns schließen.“
„Einen Vertrag?“ sagte Husathirn Mueri.
„Ja, einen Vertrag über einen ewigen Frieden.“
Husathirn Mueri sah wie betäubt aus. „Was sind die Bedingungen? Hast du das erfahren?“
„Sie wollen, daß quer über den Kontinent eine Linie gezogen wird, irgendwo direkt nördlich der Stadt Yissou. Alles, was nördlich von dieser Grenzlinie liegt, soll danach Hjjkerland sein, alles südlich davon bleibt VOLKS-Gebiet. Kein Angehöriger unserer verschiedenen Rassen darf künftig das fremde Territorium betreten.“
„Ein Vertrag“, wiederholte Husathirn Mueri verwundert. „Die Königin will einen Vertrag mit uns schließen? Ich kann es nicht glauben.“
„Ich ebensowenig“, sagte Hresh. „Das klingt doch fast zu schön, um wahr z sein, wie? Klare festgelegte Grenzen. Ein Abkommen über territoriale Unverletzlichkeit. Alles ganz klar, alles ganz direkt. Mit einem Streich das Ende unserer Furcht vor einem Krieg mit denen, die uns unser ganzes Leben lang bedrückte.“
„Falls wir ihnen trauen können.“
„Ja. Falls wir ihnen trauen können.“
„Haben sie auch nach Yissou einen Gesandten geschickt, hast du da etwas erfahren?“ fragte Husathirn Mueri.
„Ja. Wie es scheint, haben sie Emissäre in jede der Sieben Städte entsandt.“
Husathirn Mueri lachte. „König Salamans Gesicht möchte ich gern sehen! Plötzlich aus dem Nichts bricht der Frieden aus! Ein Ewiger Frieden mit dem mächtigen Erzfeind, den Insekten! Was würde denn dann aus seinem ‚Heiligen Vernichtungskrieg‘ auf den er in den letzten zehn, zwanzig Jahren so entsetzlich scharf ist?“
„Glaubst du, es war Salaman mit seinen Kriegsdrohungen gegen die Hjjks je wirklich ernst?“ fragte Mialli.
Husathirn Mueri blickte zu ihr her. „Was?“
„Das Ganze ist doch bloße Politik, oder? Damit er einer Grund hat, seine große Mauer immer höher und höher und noch höher zu bauen. Andauernd sagt er, die Hjjks bereiteten sich darauf vor, seine Stadt zu erobern, dabei haben sie zuletzt einen Angriff gewagt, als die meisten von uns noch gar nicht geboren waren. Damals, als Harruel dort oben König war und Yissou gerade erst gegründet.“
Er wandte sich wieder Hresh zu. „Da hat sie ein stichhaltiges Argument. Trotz all dem Gezeter von Salaman hat es seit Jahren zwischen den Hjjks und dem VOLK keine wirklichen Feindseligkeiten mehr gegeben. Sie haben ihre Territorien, wir die unsern, und außer ein paar Scharmützeln in der Grenzzone passiert doch nie was Ernstes. Wenn bei diesem Vertrag nichts weiter rausschaut als die Ratifizierung des Status quo, was hat er dann überhaupt für eine Bedeutung? Oder handelt es sich um eine Falle?“
„Es gibt noch weitere Vertragspunkte, außer diesem einen“, sagte Hresh gelassen.
„Was soll das heißen?“
„Ich glaube, das heben wir uns besser für die Aussprache im Präsidium auf“, antwortete Hresh. „Im Moment haben wir hier einen erschöpften fremden Gast. Weise dem Jungen eine Unterkunft zu, Husathirn Mueri. Und seht zu, daß ihr etwas zu essen auftreibt, das ihm schmeckt. Versorgt sein Zinnobär ebenfalls gut. Er ist sehr besorgt um sein Reittier.“
Husathirn Mueri winkte einen der Gerichtsdiener heran, der linkisch vorwärtsstolperte.
„Nein!“ sagte Nialli Apuilana. Ihre Stimme war schon wieder nur ein scharfes Krächzen, doch es gelang ihr, sich Gehör zu verschaffen. „Nicht du!“ Sie streckte dem Fremden die Hand entgegen. „Ich werde mich darum kümmern, daß er ihm angenehme Nahrung erhält. Ich weiß, was er ißt. Und ich weiß es wirklich besser als irgendwer sonst hier. Vergeßt nicht, ich war selbst einmal im Nest.“ Sie warf herausfordernde Blicke durch den Saal „Also? Gibt es Einwände?“ Aber niemand sagte etwas.
„Komm!“ sprach sie zu Kundalimon. „Ich werde für dein Wohlbefinden sorgen.“
Ganz wie es richtig ist, dachte sie.
Wie könnte ich auch zulassen, daß es jemand anderer tut? Was wissen die denn schon? Alle zusammen? Aber wir zwei, wir sind beide aus dem Nest. Du und ich. Wir sind beide aus dem Nest.
2. Kapitel
Verkleidungen unterschiedlicher Art
Als er später wieder allein ist, schließt Hresh die Augen und läßt seine Seele schweifen, stellt sich vor, sie breite in einer Traumvision weit ihre Flügel aus und schwebe über den Bezirk der Stadt hinaus weit über die windgepeitschten nördlichen Ebenen, bis zu jenem unbekannten fernen Reich, wo die Scharen des Insektenvolks in gewaltigen unterirdischen Höhlentunnels umherwimmeln. Sie sind ihm ein absolutes Rätsel. Im wahrsten Wortsinn abgründig geheimnisvoll. Er sieht die Königin (oder was er dafür hält), diese unermeßliche, zurückgezogene, unauslotbare Monarchin, schlaftrunken ruhend in ihrer schwerbewachten Kammer. sich nur träge mit bewegend, während ihre Leibdiener mit scharfen schwirrenden Hjjk-Gesängen ihren Lobpreis singen. Ihr, der Hjjk der Hjjks, der Großen Königin. Welche Hjjk-Träume der totalen Weltbeherrschung träumt sie gerade jetzt in diesem Augenblick? Wann werden wir je erfahren, fragt sich Hresh, was diese Geschöpfe von uns wollen?
„Deine Abdankung?“ rief Minguil Komeilt erstaunt. „Abdankung, Edle? Wer würde so etwas wagen? Laß mich mit dem Papier zum Hauptmann der Wachen gehen! Wir werden herausfinden, wer dahintersteckt, und dafür sorgen, daß.“
„Gib Ruhe, Weib!“ sagte Taniane. Die nervöse Aufgeregtheit ihrer Privatsekretärin war ärgerlicher, als die Petition selbst es gewesen war. „Glaubst du denn, es ist der erste derartige Schrieb, den ich bekomme? Oder der letzte? Das bedeutet nichts. Nichts!“
„Aber dich mit einem Stein zu bewerfen, der in so einen Schrieb gewickelt ist.“
Taniane lachte. Sie las noch einmal den Fetzen Papier in ihrer Hand. DU HOCKST SCHON VIEL ZU LANG DA, hieß es da in krakeligen Buchstaben. HÖCHSTE ZEIT, DASS DU PLATZ MACHST UND DIE RECHTMÄSSIGEN LEUTE HERRSCHEN LÄSST.
Die Worte und die Handschrift waren bengisch. Der Stein war aus dem Nirgendwo vor ihren Füßen gelandet, als sie von der Kapelle der Fürsprache die Koshmar-Allee entlang zurück zu ihren Gemächern im Haus der Regierung entlangging, wie sie dies fast an jedem Tag nach dem Morgengebet zu tun pflegte. Dies war die dritte derartige anonyme Drohung, die sie erhalten hatte — nein, es ist schon die vierte, korrigierte sie sich — in den letzten sechs Wochen. Und das nach beinahe vierzigjähriger Häuptlingschaft:.
„Du willst also, daß ich gar nichts dagegen unternehme?“ fragte Minguil Komeilt.
„Ich möchte, daß du den Schrieb in der Akte ablegst, die du für derartige Ausbrüche angefertigt hast, und die Sache dann vergißt. Ist das klar? Vergiß es! Es ist absolut bedeutungslos.“
„Aber. Edle.“
„Bedeutungslos“, wiederholte Taniane.