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Sie trat in ihre Privatgemächer. Von den dunklen punktierten Wänden starrten die Masken ihrer Amtsvorgänger auf sie herab.

Es waren wilde, lebendige, fremdartige, barbarische Masken. Zeichen der Macht aus einer verflossenen Zeit. Taniane gemahnten sie daran, wie gewaltig die Veränderungen waren, die sich in einer einzigen Lebensspanne seit dem Auszug des VOLKES aus dem Kokon ergeben hatten.

„Es wird Zeit, daß ich Platz mache“, erklärte sie flüsternd den Masken. „Gibt man mir jedenfalls zu verstehen. Steinwürfe in den Straßen. Bengs, denen die Unionsabmachung nichts mehr bedeutet. Nach all dieser Zeit. Unruhige Narren, weiter nichts. Wollen noch immer, daß einer von ihnen regiert. Als hätten sie eine bessere Methode parat. Vielleicht sollte ich ihnen geben, was sie haben wollen, dann wird sich ja zeigen, wie ihnen das dann gefällt.“

Hinter ihrem Arbeitstisch hing die Maske Lirridons, die Koshmar getragen hatte. an jenem längst entschwundenen Tag, an dem der Stamm den Vorstoß in die wiederaufgetaute frostbefreite Welt begann. Es war eine furchteinflößende Maske, grausam, scharfkantig, abstoßend. Sicherlich war sie aus einer alten Stammeserinnerung an das Hjjk-Volk heraus geformt worden, an einen ererbten kollektiven Alptraum, denn die Maske war gelb und schwarz und trug einen schrecklichen vorstoßenden scharfen Schnabel.

Daneben Sismoils Maske, rätselhaft, ausdruckslos, ein flaches unentzifferbares Gesicht mit winzigen Augenschlitzen. Thekmurs ganz schlichte Maske hing daneben. Weiter drüben hing die Maske Niallis, und die war nun wahrlich schrecklich: schwarz und grün mit einem Dutzend langer blutroter starr abstehender Stacheln. Die Nialli-Maske hatte Koshmar getragen, als das Angriffsheer der Behelmten — des Beng-Volkes in Vengiboneeza erschienen war und das VOLK zum Kampf herausgefordert hatte.

Und dort waren Koshmars eigene Masken: die schimmernde graue mit den roten Augenschlitzen, die sie im Leben getragen hatte, und jene edlere, die der Künstler Striinin zu ihrem Gedächtnis nach ihrem Tode gefertigt hatte: die kräftigen Züge in poliertem Schwarzholz geformt. Taniane selbst hatte diese Maske am Tage des Auszugs aus Vengiboneeza getragen, als das VOLK zu seiner zweiten Wanderung aufbrach, die es am Ende an den Ort führte, wo das VOLK sich Dawinno-Stadt erbauen sollte.

Glitzerspuren aus einer verschwundenen Vergangenheit. Erinnerungsfunken, eine blasse Leuchtspur nach rückwärts durch die dämpfenden Wickelschichten der Zeit zu jenen vergessenen Tagen klaustrophobischer Bedrängtheit.

„Soll ich abdanken?“ fragte Taniane Koshmars Maske. „Haben sie recht? Hab ich lange genug geherrscht? Und ist es Zeit, daß ich jetzt Platz mache?“

Koshmar war die letzte der Alten Häuptlinge gewesen — hatte über einen Stamm geherrscht, der so klein war, daß der Führer noch jeden namentlich kannte, und in dem Strittigkeiten vom Häuptling entschieden wurden, als wären sie nichts weiter als ein kleiner Zwist unter Freunden.

Wieviel einfacher es doch damals noch war! Und die Leute so ohne Arg und so naiv!

„Also, vielleicht sollte ich es tun“, sagte Taniane. „Wie? Was meinst du dazu? Verlangen die Götter von mir, daß ich jeden mir noch im Leben bleibenden Augenblick für diese Aufgabe opfere? Oder ist es mein Stolz, der mich zwingt, Jahr um Jahr erneut an meinem Amt zu kleben? Oder weil ich nicht wüßte, was ich dann mit mir anfangen soll?“

Aber die Masken Koshmars gaben ihr keine Antwort.

In Koshmars Tagen war das ‚Volk‘ nur eine kleine Horde gewesen; ein bloßer kleiner Stamm. Jetzt hingegen war das VOLK zivilisiert und lebte urban; jetzt zählte man es nach Tausenden, statt nach Manipeln, und es hatte sich als zwangsläufig und Not abwendend erwiesen, immer neue Konzepte zu erfinden, eine sinnenverwirrende Flut von Dingen zu produzieren, damit diese neue expandierte Ordnung überhaupt funktionierte. Man hatte sich an den Gebrauch dieser neuen Sache namens ‚Tausch-Einheiten‘ gewöhnt, anstatt der einfach gleichmäßigen Verteilung an jeden; man zankte giftig über Profit, Besitztümer, die Größe der Wohnungen, die Zahl der beschäftigten Arbeiter, über Wettbewerbstaktiken auf dem Marktplatz und ähnliches derart absurdes Zeug. Sie hatten sich in ‚Klassen‘ zu spalten begonnen: in herrschende, besitzende, arbeitende und arme Klassen. Aber auch die alten Stammeszugehörigkeiten waren nicht völlig verschwunden. Gewiß, sie verwischten sich mehr und mehr. Doch hatten weder die Koshmaris noch die Beng ganz vergessen, daß sie eben koshmarisch und bengisch waren; und hinzu kamen noch alle die übrigen: die Hornbelions und Debethins und Stadrains und Mortirils und der Rest all der stolzen kleinen Stämme, die nach und nach in den größeren Stämmen aufgingen, die sich jedoch verzweifelt abmühten, noch Fetzchen ihrer alten Identität zu bewahren.

All dies brachte immer neue Probleme mit sich und wurde dem Häuptling als Höchster Instanz zur Entscheidung vorgelegt. Und alles war dermaßen schnell gegangen. In einer einzigen Generation war die Stadt — dank Hreshs unermüdlicher Erfindungskraft und seiner Forscherbeute aus den Archiven der Vorzeit — hochgeschossen und gewachsen wie ein Pilz und versuchte keck und hoffnungsschwanger, die großen Städte der vergangenen Großwelt zu imitieren.

Taniane betrachtete die Masken.

„Du mußtest dich nie mit Bevölkerungsstatistik und Steuerlisten herumplagen, nicht wahr? Oder mit den Protokollen der Präsidialsitzungen. Mit der Zahl der gerade in Umlauf befindlichen Tausch-Einheiten.“ Taniane fuhr mit den Fingern durch den Berg von Papieren auf ihrem Tisch: Gesuche von Kaufleuten für eine Importlizenz für Waren aus Yissou; Expertengutachten über Stadtsanierungsprobleme in suburbanen Vierteln; ein Bericht über den schlechten Zustand der Thaggoran-Brücke im Südende der Stadt. Und so weiter und weiter und weiter. Und ganz obenauf lag Hreshs kurzes Memorandum: Bericht zu dem Vertragsangebot der Hjjks.

„Ach, wärt ihr doch bloß an meinem Platz“, sagte Taniane heftig zu den Masken an der Wand, „und ich hinge statt dessen da droben!“

Sie hatte noch nie eine eigene Maske gehabt. Anfangs genügte es ihr völlig, bei den Anlässen, die Masken erforderten, die von Koshmar zu tragen. Später, nachdem die Beng nach Dawinno gekommen waren und sich mit dem VOLK vermischt hatten, als man den Unionsvertrag schloß, erlaubte der politische Kompromiß zwar einen Häuptling aus Koshmari-Blut, verlangte jedoch eine Beng-Majorität im Präsidium, und als die Stadt in ihre höchst sensationelle Wachstumsphase geriet, war Taniane der Maskenzauber als leidlich überholt erschienen, als ein ziemlich törichtes Relikt aus alter Zeit. Seit Jahren hatte sie keine Maske mehr aufgesetzt.

Dessen ungeachtet behielt sie die Masken aber dennoch um sich, in der Nähe, in ihrem Arbeitszimmer. Teils, weil sie ja recht dekorativ waren, teils aber zur mahnenden Erinnerung an jene dunklere, primitivere Zeit, in der Eis das Land bedeckte und ihr VOLK nichts weiter war als ein kleiner Haufen unbedarfter nackter oder pelziger Kreaturen, die sich angstvoll in einer versiegelten Erdkammer in der Flanke eines Berges aneinandergepreßt hatten. Die grobschlächtige Form und die leuchtendgrellen Farben dieser Masken stellten jetzt für sie das einzige Verbindungsglied zur anderen Epoche dar.

Taniane setzte sich hinter den geschwungenen Onyxblock, der auf einem Fuß aus rosa Granit ruhte und an dem sie arbeitete, und griff sich eine Handvoll der Papiere, die Minguil Komeilt dort für sie deponiert hatte. Trübsinnig blätterte sie den Aktenstoß wieder und wieder durch. Vor ihrem Blicke schwammen Wörter vorbei: Volkszählung...

Steuern... Thaggoran-Brücke... Hjjk-Vertrag... Hjjk... Hjjk... Hjjk... Vertrag...

Sie schaute zu der Lirridon-Maske hinauf, zu dem Hjjk-Gesicht mit dem riesigen scheußlichen Greifschnabel.

„Würdest du einen Vertrag mit ihnen machen?“ fragte sie. „Überhaupt mit denen verhandeln?“