Ihr Gesicht, diese wundersame zeitliche Spiegelung von Tanianes eigenem Gesicht, war dabei ausdruckslos, eine völlig gefühlsleere, unentzifferbare Maske. Taniane fühlte sich versucht, auf der intimsten Stufe des Zweitgesichts sich in ihre Tochter hineinzutasten, die verbotenen Kräfte einzusetzen und diesmal hinter dieser verdrossenen Maske vorzudringen. Verbarg Nialli Zorn oder nur Widerwillen — oder etwas anderes, ein wildes aufflammendes rebellisches Feuer?
„Sind wir dann fertig?“ fragte Nialli Apuilana. „Darf ich mich dann entfernen?“
Taniane schaute sie trübe an. Alles war sehr arg schiefgelaufen. Sie hatte das kleine Gefecht gewonnen. Vielleicht. Aber sie spürte, daß sie einen Krieg verloren hatte. Sie hatte Nialli liebevoll und freundschaftlich zu begegnen gehofft. Statt dessen war sie scharf und knurrig gewesen, hatte plump die Stärke ihrer Stellung eingesetzt und kalt Befehle erteilt, als wäre Nialli weiter nichts als ein geringrangiger Funktionär ihres Stabes. Sie wünschte, sie hätte sich erheben, um den Tisch herumgehen und Nialli in die Arme schließen können. Doch irgendwie war es ihr unmöglich. Sie hatte oft dieses Gefühl, als ragte zwischen ihr und ihrer Tochter eine Mauer auf, höher als die Wälle König Salamans.
„Ja“, sagte sie. „Du kannst gehen.“
Nialli schritt rasch zur Tür. Aber ehe sie in den Gang trat, wandte sie sich um und blickte zurück.
„Mach dir keine Sorgen“, sagte sie, und in ihrer Stimme klang zu Tanianes Erstaunen ein versöhnlicher, fast sanfter Ton mit. „Ich werde es richtig machen. Ich werde herausfinden, was du wissen mußt, und es dir berichten. Und ich werde auch dem Präsidium berichten.“
Dann war sie verschwunden.
Taniane wandte sich um und blickte zu den Masken an der Wand. Sie schienen sie zu verspotten. Die Gesichter waren unversöhnlich.
„Was wißt ihr schon?“ brummte sie. „Keine von euch hatte je einen Partner oder Kinder! Oder? Oder?“
„Edle?“ Eine fragende Stimme von draußen. Minguil Komeilt. „Darf ich eintreten?“
„Was gibt es?“
„Eine Delegation, Edle. Von der Gerber- und Färber-Gilde aus dem Norddistrikt, wegen der Reparaturarbeiten an ihrer Hauptwasserleitung, die, wie sie angeben, durch ungesetzliche Abfallimmissionen von Mitgliedern der Gilde der Weber und Wollkrempier verstopft ist, was dazu führt.“
Taniane stöhnte laut auf.
„Ach, delegiere sie an Boldirinthe“, sagte sie, halb zu sich selber. „Sowas kann die Opferfrau ebensogut erledigen wie der Häuptling.“
„Edle?“
„Boldirinthe kann für sie beten. Sie kann die Götter anflehen, die Leitung wieder freizumachen. Oder ihren Zorn auf die Gilde der Weber und so herabrufen und.“
„Edle?“ sagte die Sekretärin erneut, diesmal bestürzt. „Verstehe ich dich richtig, Edle? Es ist ein Scherz, nicht wahr? Nur ein kleiner Scherz?“
„Ja. Es war nur ein Scherz“, sagt Taniane. „Du darfst mich nicht so ernstnehmen.“ Sie preßte die Finger auf die Augen und holte dreimal hastig tief Luft. „Also, schick sie mir herein, die Delegation der Gilde der Gerber und Färber.“
Ein dunstiger Hitzeschleier bedeckte den Himmel, als Nialli vor dem Regierungshaus auf die Straße trat. Sie winkte einen vorbeikommenden Xlendiwagen heran.
„Zum Nakhaba-Haus“, befahl sie dem Fahrer. „Ich bleibe dort nur so etwa fünf Minuten. Dann sollst du mich weiterfahren.“
Das zweite Ziel sollte das Mueri-Haus sein, in dem man den Emissär untergebracht hatte: ein Hospiz, das zumeist von Stadtfremden frequentiert wurde, und wo man den Gesandten gut und ständig observieren konnte. Es war nun Zeit, daß Nialli ihm sein Mittagsmahl brachte. Täglich zweimal suchte sie Kundalimon auf: mittags und in der Abenddämmerung. Er bewohnte ein kleines einfenstriges Gemach (eher schon eine Zelle) im dritten Geschoß, nach hinten, auf einen umschlossenen Hof hinausgehend.
Die Auseinandersetzung mit ihrer Mutter hatte eine dumpfe Leere in ihr hinterlassen. Jedesmal, wenn sie mit Taniane zu tun hatte, kämpften in ihr Liebe und Furcht gegeneinander. Bei Taniane wußte man nie vorher, wann ihr starker Sinn für die Nöte der Stadt alle sonstigen Überlegungen und Rücksichten, jeden Gedanken an die schmuddeligen kleinen privaten Bedürfnisse und Probleme der einzelnen Bürger verdrängen würde; wobei es dann gleichgültig war, ob es die eigene Tochter traf oder einen völlig Fremden. Für Taniane kam die Stadt stets und immer an erster Stelle. Zweifellos mußte man so werden, wenn man vierzig Jahre lang Häuptling war; die Zeit machte einen hart, engsichtig, stur. Vielleicht hatte der Beng, der diesen Stein geworfen hatte, völlig recht? Vielleicht war es Zeit, daß Taniane den Platz räumte.
Nialli überlegte, ob sie tatsächlich für Taniane spionieren würde, wozu sie sich so plötzlich zur eigenen Verblüffung bereiterklärt hatte.
Wahrscheinlich war es ein Fehler, das Ganze in Zusammenhang mit Bespitzelung zu bringen. Schließlich war sie ja Bürgerin Dawinnos und zudem die Tochter des Häuptlings und des Chronisten. Und sie besaß ja wirklich einige, wenn auch minimale Kenntnisse in der Hjjk-Sprache, und das war mehr, als sonstwer hier von sich behaupten durfte. Warum sollte sie also nicht als Dolmetsch fungieren, freudig und stolz darauf, daß sie ihrer Stadt dienen konnte? Es bedeutete doch schließlich nicht, daß sie Taniane und dem Präsidium jedes einzelne Wort aus den Gesprächen mit Kundalimon wiederholen mußte. Oder daß sie ihr gesamtes Wissen über die Hjjks ihrer Inquisition preiszugeben hatte. Sie konnte sorgsam auswählen, konnte sich in ihrem Bericht recht leicht auf die Kernpunkte des Vertragsangebotes beschränken. Doch der Gedanke war so schrecklich gewesen, daß man sie peinlich über alles ausquetschen könnte, was sie über das NEST und seine Herrscherin wußte. Es hatte Nialli mit Entsetzen erfüllt, daß man den Schutzpanzer ihrer Intimsphäre durchbrechen könnte, hinter dem sie sich nun fast vier Jahre lang versteckt hatte. Sie gedachte diesen Schutz höchstselbst abzulegen, und zwar wenn und wann sie die rechte Zeit für gekommen hielt. Die Vorstellung, die anderen könnten sie vorzeitig dieses Schirms berauben, ehe sie dazu bereit war, erfüllt sie dennoch mit Entsetzen. Vielleicht eine Überreaktion? Vielleicht.
Sie hielt sich im Nakhaba-Haus nur kurz auf, um Kundalimons Mittagsmahl zu holen. Heute hatte sie ein gekochtes Vimbor-Lendenstück für ihn. Meistens brachte sie ihm Gerichte aus der Hjjkküche: Saatkörner und Nüsse, Dörrfleisch, nicht mit reichen, üppigen Saucen. Doch sie setzte ihn auch ab und zu behutsam der Verführung der herzhafteren völkischen Kochkunst aus, immer nur jeweils ein, zwei kleine Häppchen. Auch Essen konnte als sprachhelfende Kommunikation dienen, und die gemeinsam eingenommenen Mahlzeiten förderten ihren gegenseitigen Lernprozeß.
Einmal — es war das dritte-, viertemal, daß sie ihm sein Essen brachte — hatte er lange Zeit nachdenklich einen Mundvoll Nüsse und Früchte gekaut, ohne zu schlucken, und dann schließlich einen Teil davon in seine Hand gespuckt. Den Brei hatte er ihr dann entgegengehalten. Niallis erste Reaktion war Verblüffung und Ekel. Doch er hielt ihr weiterhin drängelnd die Handvoll feuchten Brei hin und nickte und deutete dabei unablässig.
„Was ist das?“ hatte sie benommen gefragt. „Ist was nicht in Ordnung damit?“
„Kein. Essen. Du. Nialli Apuilana?“
Sie begriff noch immer nicht und starrte ihn an.
„Nehmen. nehmen.“
Und dann fiel es ihr plötzlich wieder ein. Im NEST teilten die Hjjks halbverdaute Nahrung die ganze Zeit miteinander. Zum Zeichen der Solidarität, der Nest-Bindung und vielleicht noch einiges mehr, das in einem Zusammenhang stand mit dem Nahrungsmetabolismus im Körper der Hjjks, was sie jedoch nicht verstand. Aber sie erinnerte sich jetzt daran, wie ihre Nestgefährten einander vorgekauten Nahrungsbrei aufgedrängt hatten. Dieses Teilen der Nahrung war etwas ganz allgemein Selbstverständliches unter ihnen.