Die Stadt der Fleischlinge war ein Labyrinth aus weißen Mauern und Türmen, das sich an wohlgerundete Berghügel am Ufer eines unermeßlichen Ozeans schmiegte. Genau so hatte es der Nest-Denker gesagt. Die Stadt schwang sich hinauf und quoll wie ein gigantisch wuchernder Organismus über die hohen grünen Hügelkämme hinaus, die um die geschwungene Bucht lagen.
Es war so merkwürdig, so oberirdisch, so — ausgesetzt zu sein in diesem verwirrenden Gewirr verschiedenartiger und ineinander verstrickter Strukturen. und sie waren alle so starr und hart, so ganz unähnlich dem weichen geschmeidigen Gang in den Korridoren des Nests. und dazwischen diese unvertraut gähnenden offenen Räume.
Wirklich, ein fremdartig abstoßender Ort! Und dennoch: auf seine Art schön. Wie war so etwas möglich, schön und widerwärtig zugleich? Für einen Augenblick geriet sein Mut ins Wanken. Ihm wurde wieder deutlich, daß er weder Fleischling noch Nestling war, und er kam sich auf einmal sehr verloren vor, wie eine Kreatur im unbestimmten dünnen Nebeldunst, keiner der zwei Welten zugehörig.
Es währte nur kurz. Seine Ängste verflogen, und Nestkraft erfüllte ihn aufs neue. Er war ein getreuer Diener der Königin, wie also sollte er versagen können?
Er warf den Kopf zurück und saugte die warme aromageschwängerte Brise in die Lungen, die von Süden wehte. Schwerbeladen mit Stadtdüften und dem Geruch der Fleischlinge, wie dieser Wind war, stachelte er Kundalimons Körper zu einer akuten Hitzereaktion an: die Antwort auf den Ruf des Fleisches. Und das ist recht so, dachte er, denn ich bin Fleisch; und trotzdem bin ich Teil des Nests. Ich bin der Emissär der Königin-der-Königinnen, die Stimme des Nests-der-Nester. Ich bin die Brücke zwischen den Welten.
Er gab ein vergnügtes klickendes Geräusch von sich. Dann ritt er gelassen weiter. Eine Weile später erblickte er in der Ferne winzige Gestalten, Fleischlinge, die ihm entgegensahen, auf ihn zeigten, etwas riefen. Kundalimon nickte grüßend und winkte ihnen zu. Dann gab er seinem Zinnobären die Sporen und ritt dem Ort, genannt Dawinno, entgegen.
Einen Tagesritt nach Südosten, in den Moorseen, die landeinwärts hinter den Küstenbergen der Stadt Dawinno lagen, zogen die Jäger Sipirod, Kaldo Tikret und Vyrom vorsichtig durch die gelbleuchtenden Moosblumenfelder. Die Luft schimmerte von einem dichten goldenen Dunst. Das war der Pollen der männlichen Blütenstände der Moosblume, der in dichten Schwaden auf die Felder weiblicher Pflanzen weiter südlich zutrieb. Vor den Jägern erstreckte sich eine Kette langgezogener schmaler phosphoreszierender Seen, die in wuchernden Geflechten von Blaualgen fast erstickten. Es war noch früh am Tag, doch es war bereits erstickend heiß.
Hresh, der Alte, der Chronist, hatte die drei hierher gesandt. Sie sollten ihm Pärchen von diesen Caviandis fangen, diesen flinken geschmeidigen Fischjägern, die in solchen Wasserregionen hausten.
Die Caviandis waren harmlose friedliche Tiere. Ansonsten jedoch gab es in dieser Region kaum etwas Harmloses, und so bewegten sich die drei Jäger mit höchster Achtsamkeit voran. Der Tod konnte in diesen Sümpfen sehr schnell sein. Hresh hatte ihnen ein fettes Bündel.
Tauschmarken versprechen müssen, ehe sie sich überhaupt an die Aufgabe wagten.
„Ob er die essen will, was meint ihr?“ fragte Kaldo Tikret. Er war von kurzem groben Wuchs, ein Mischling mit schütterem schokoladebraunen Fell, das einen Hauch der Goldfärbung des Beng-Stammes aufwies, und seine Augen waren wie stumpfer Bernstein. „Caviandi soll gut schmecken, hab ich mir sagen lassen.“
„Ach, essen wird er sie bestimmt“, sagte Vyrom. „Ich kann es jetzt schon richtig vor mir sehen. Das ganze Bild. Wie er und seine Gemahlin-Häuptling und diese irre Tochter von ihnen sich in ihren feinsten Feierkleidern an den Tisch setzen, ja. Und gebratene Caviandistücke mit beiden Händen sich hineinstopfen und mit Bächen vom guten Wein nachspülen.“ Er lachte und fuhr mit seinem Sensororgan in einer leidlich obszönen Geste von einer Seite zur andren. Vyrom hatte Zahnlücken, und seine Augen waren verkniffen, doch sein Leib war lang und stark. Er war ein Sohn des kräftigen Kriegers Orbin, der im Vorjahr gestorben war. Deshalb trug Vyrom noch immer das rote Trauerband am Arm. „So leben die nämlich, die gesegneten Reichen. Sie fressen und saufen und saufen und fressen — und blöde Trottel wie uns schicken sie hier raus in den Seensumpf und lassen sich ihre Cavendisse von uns fangen. Wir sollten wirklich eins mehr fangen, für uns selber, und es auf dem Heimweg braten, wo wir doch schon den ganzen weiten Weg gelatscht sind, um welche für Hresh zu fangen.“
„Trottel seid ihr wahrhaftig“, sagte Sipirod und spuckte aus. Sipirod war Vyroms geschmeidiger, flinkäugiger Partner und eine weit geschicktere Jägerin als die beiden anderen. Sie gehörte zum Stamme Mortiril, einer weniger großen Gruppe, die längst von der Stadt geschluckt worden war. „Ihr zwei Helden! Habt ihr denn nicht gehört, daß der Chronist gesagt hat, er will diese Caviandis für seine wissenschaftlichen Forschungen haben? Daß er sie studieren will? Mit ihnen sprechen, damit sie ihm ihre Geschichte berichten können?“
Vyrom schmatzte vulgär. „Was können denn Caviandis schon groß an Geschichte haben? Die sind doch bloße Tiere, weiter nichts.“
„Pscht!“ zischte Sipirod scharf. „Es gibt hier noch andre Tiere, denen es eine Lust wäre, heut euer Fleisch zu essen. Also, lenke deinen Verstand auf deine Aufgabe, Freund. Denn wenn wir klug sind, werden wir hier ungeschoren herauskommen.“
„Ja, klug und glücklich“, sagte Vyrom.
„Möglich. Doch Klugheit zieht das Glück herbei. Los, ziehen wir weiter!“
Sie wies nach vorn in die dampfende Tropenwildnis. Khut-Fliegen, halb so groß wie ein Mannskopf, mit glitzernden Facettenaugen surrten durch die gelbe Luft, fingen mit den klebrigen Tentakeln blitzschnell kleine Vögel ein und saugten ihnen die Lebenssäfte aus dem Leib. Ringelstreptoren hingen am Schwanzende von den Ästen fettborkiger Bäume und lauerten im schwärzlichen Brackwasser der Sumpfseen auf Beutefische. Ein langschnäuziges rundliches Geschöpf mit schlammfarbenem Fell und Augen wie grüne Schalen watete auf hohen kahlen Stelzbeinen im seichteren Uferbereich umher und schaufelte zappelnde graue Schlickkriecher mit trotz der unbeholfen wirkenden Stöße erstaunlichem Erfolg in sich hinein. In weiter Ferne gab ein Geschöpf, das offenbar von beträchtlicher und schrecklicher Größe sein mußte, unentwegt unheilverkündende, dunkle grollende Laute von sich.
„Ja, aber wo sind denn die ganzen Caviandisse?“ fragte Vyrom.
„An raschfließendem Wasser“, sagte Sipirod. „Die diese üblen stinkenden Pfützen hier speisen. Drüben werden wir auf ein paar von ihnen stoßen.“
„Also, mir wäre es recht, wenn wir die Sache da in einer Stunde hinter uns bringen könnten“, sagte Kaldo Tikret. „Und wenn ich dann heil und im Ganzen wieder in der Stadt bin. Was für eine Idiotie, daß wir hier für ein paar stinkende Tauschfetzen unser Leben riskieren.“
„Also, so wenige sind’s ja auch wieder nicht“, sagte Vyrom.