Er kam wild mit seinem Speer fuchtelnd angetapst. Doch gegen welches Ziel hätte er ihn schleudern sollen? Das Wenige, das vom Leib des Gorynthen sichtbar war, steckte unter dicken überlappenden Panzerschuppen, von denen sein Speer einfach abprallen mußte. Der lange Hals war verwundbarer, aber weniger leicht zu treffen. Und dann verschwand auch dieser und tauchte mit Kaldo Tikret in das trübe dunkle Wasser hinab, aus dem schwärzliche Blasen aufstiegen.
Das Wasser schäumte eine Zeitlang. Sie schauten dem zu, eine Weile lang, und brachten verlegen ihren Pelz wieder in Ordnung.
Plötzlich sagte Sipirod: „Da, schau, da ist ein andrer Caviandi, dort bei dem Sack. Vielleicht versucht er, seinen Partner zu befreien.“
„Ja, aber wollen wir denn nichts für Kaldo Tikret tun?“
Sie schnitt mit einer Bewegung durch die Luft. „Was denn? Sollen wir hinter ihm her ins Wasser springen? Er ist futsch, begreifst du das nicht? Vergiß ihn! Wir müssen Caviandis fangen. Dafür werden wir schließlich bezahlt. Je rascher wir noch eins erwischen, desto rascher können wir von diesem Scheißort weg und zurück nach Dawinno.“ Da begann die schwarze Fläche des Sees gerade sich wieder zu glätten. „Futsch ist er eben, ja. Genau wie du vorhin gesagt hast: Klug sein und Glück haben. darum geht es.“
Vyrom schauderte es. „Und Kaldo Tikret hatte kein Glück.“
„Nein. Und er war auch nicht besonders klug. — Also, ich werd jetzt im Bogen rumschleichen, und du kommst mit dem zweiten Sack hinterher.
Dawinno-Zentrum, Verwaltungssektor, ein Labor in der zweiten Tiefetage des Hauses der Wissenschaft. Helle Beleuchtung, überhäufte Arbeitstische, überall verstreut die Bruchstücke uralter Zivilisationen. Plor Killivash drückt behutsam den Startbuckel auf dem kleinen Schneidewerkzeug in seiner Hand. Ein bleicher Lichtstrahl badet den stinkenden unförmigen Klumpen von Ich-weiß-nicht-was in Helligkeit. Das Ding ist scheffelgroß und stumpf gerundet wie ein Ei, und er hat dieses Ei schon seit einer ganzen Woche in jeder Weise bebrütet. Er zentriert das Ding und setzt einen raschen Oberflächenschnitt an, einen zweiten und einen dritten, vierten und hat eine feine Inzision der Außenseite.
Letzte Woche war es gewesen, da hatte ein Fischer das Ding abgeliefert und behauptet, es sei ein Relikt aus der Großen Welt, eine Schatztruhe der uralten Rasse der Seelords. Nun gehörte alles, was möglicherweise seelordisch sein konnte, zum Aufgabenbereich von Plor Killivash. Die Oberfläche des Objekts war von einer schleimigen Kruste von Spongien, Korallen und weichen rötlichen Algen bedeckt, und aus dem Innern träufelte unablässig säuerlich trübes Meerwasser. Wenn man mit einer Zwinge darauf klopfte, klang es hohl und dumpf. Nein, er setzte nicht die geringste Hoffnung in das Ding.
Wäre Hresh hier gewesen, vielleicht hätte er sich dann weniger mutlos gefühlt. Aber der Chronist war an diesem Tag nicht im Haus der Wissenschaft; er weilte zu Besuch in der Villa seines Halbbruders, Thu-Kimnibol. Denn die Lady Naarinta, Thu-Kimnibols Gefährte, war ernstlich erkrankt; und so fiel es denn Plor Killivash, welcher einer der drei Assistenz-Chronisten war, wie gewöhnlich schwer, seine Arbeit in Hreshs Abwesenheit gebührend ernstzunehmen. Wenn dieser sich nämlich im Komplex aufhielt, gelang es ihm stets irgendwie, jedem in seinem Aufgabenbereich das Gefühl von bedeutsamer Wichtigkeit der jeweiligen Arbeit einzuflößen. Sobald er jedoch den Bau verlassen hatte, versandete die ganze trübselige Scherben- und Fetzchenmanipulation historischer Relikte zur puren Absurdität, zum sinnlosen, zwecklosen Herumstochern im Schutt einer mit vollem Recht in Vergessen versunkenen fernen Vergangenheit. Das Studium der verflossenen Tage erschien einem dann immer stärker wie ein unsinniger Zeitvertreib, wie eine erbärmlich dumpfe Herumsucherei in versiegelten Grabgewölben, die nichts weiter preisgaben als den Gestank des Todes.
Plor Killivash war ein kräftiger untersetzter Mann aus der Koshmar-Linie. Er hatte die Universität besucht und war darauf sehr stolz. Früher hatte er eine Weile die Hoffnung gehegt, eines Tages selbst Chefchronist zu werden. Er war sicher, daß er sich auf dem richtigen Aufsteigertrip bewegte, denn unter den Assistenten war er der einzige Koshmar; Io Sangrais gehörte zu den Beng, und Chupitain Stuld sogar zu dem kleinen Stamm der Stadrain.
Natürlich waren auch seine Kollegen Universitätsleute; doch es gab gute politische Gründe, warum man die Position des Chronisten keinem Beng überantworten wollte, und kein Mensch hätte je daran gedacht, sie könnte jemals einem Kandidaten aus einer derart lächerlichunbedeutenden Stammesgruppe wie jener der Stadrains zufallen. Aber was Plor Killivash hier und jetzt anging, konnten die den Job haben, alle und jeder. Soll doch sonstwer Chef-Chronist werden nach Hresh!
So waren jetzt die Gefühle in Plor Killivash. Soll doch ein andrer die Verantwortung übernehmen für die jahrtausendedicken Anhäufungen von Schutt, durch den es sich zu graben galt.
Einst war auch er (wie Hresh früher) von einer nahezu leidenschaftlichen unkontrollierbaren Sucht beherrscht gewesen, einzudringen in den geheimnisvollen gewaltigen Sockel, auf dem sich die Erd-Geschichte türmte und an dessen Spitze diese neu-geborene Zivilisationsleistung des VOLKES klebte wie ein erbsengroßer Krümel über dem Scheitelpunkt einer Pyramide. Es hatte ihn heftig danach verlangt, sich tief in die Bereiche der eisigen Unfruchtbarkeit jenseits der Zeitspanne des Langen Winters hinabzugraben — bis zu den Wunderüppigkeiten der Großen Welt. Oder viel mehr noch — denn warum sich Grenzen setzen — wozu überhaupt Beschränkung? — warum nicht vordringen, hinabdringen in die allertiefsten Schichten der Menschheitsgeschichte, jene völlig unbekannten Reiche der nahezu ‚unendlich‘ fernen Frühära der Menschen, die auf der Erde herrschten, noch ehe die Große Welt entstanden war. Es mußte doch menschliche Ruinen und Relikte geben, tief dort unten, unter dem Schutt der Zivilisationen, die sie überlagert hatten.
Das alles war ihm als wundervoll-verführerisch erschienen. Milliarden Leben mitzuleben, nachzuleben, die sich im Verlauf von Millionen von Jahren ereignet hatten. Auf der Alten Erde zu stehen und zu fühlen, daß ‚man‘ schon vorhanden war, als sie der Schnittpunkt der Sternenbahnen war. Sich das Gehirn überschwemmen lassen von fremdartigen Bildern, unvertrauten Sprachen, dem Denken fremdartiger Bewußtheiten, die von unaussprechlich hoher Geistesschärfe waren. Aufzusaugen und zu umgreifen, zu verstehen, was immer sich auf diesem großartigen Planeten jemals ereignet hatte, der so unendlich vieles im Lauf seiner Umdrehungen und seiner langen Lebensspanne erfahren hatte. Schicht auf Schicht getürmt bis tief hinunter in die Frühdämmerung der Geschichte.
Doch damals war Plor Killivash ein Knabe, und es waren die Gedanken eines Knaben gewesen, von praktischen Erwägungen unbehindert. Nun war er zwanzig und wußte genau, wie schwierig es war, die verlorengegangene, verschüttete Vergangenheit wieder zum Leben zu erwecken. Unter dem harten Druck der Realität entglitt ihm mehr und mehr von seiner feurigen Lust an der Entdeckung uralter Geheimnisse, ebenso wie man es auch bei Hresh mit jedem Jahr deutlicher wahrnehmen konnte. Hresh allerdings hatten wundersame Maschinen aus der Großwelt zur Verfügung gestanden, die nun nicht mehr einsetzbar waren, von denen er seine Visionen der Welten vor dieser jetzigen Welt bezogen hatte. Aber einem Chronisten, dem die Vorzüge solcher Wundermaschinen nicht zugänglich waren, mußte seine Arbeit mehr und mehr als bloße trübselig-mühsame Plackerei erscheinen, die viele Enttäuschungen brachte und kärglich geringen Ertrag.
Düstre Gedanken an einem düstren Tag. Und in gedrückter Stimmung schickte sich Plor Killivash an, das Artefakt aus dem Meer aufzuschneiden.
Die schlanke Gestalt der Chupitain Stuld erschien im Türrahmen. Sie lächelte, die dunkelvioletten Augen blitzten fröhlich.
„Bohrst du immer noch? Ich dachte, du bist längst drin in dem Ding.“