„Weil die Hjjks beschlossen haben, daß sie die Stadt für sich haben wollen“, hatte Torlyri gesagt.
Und er hatte sich zornig seinem Vater zugewandt: „Aber warum gehst du und deine Freunde dann nicht hin und bringt sie um?“
Und Trei Husathirn antwortete immer gleich: „Das würden wir tun, Junge, wenn wir es könnten. Aber es sind in Vengiboneeza zehnmal mehr Hjjks, als du Haare auf dem Kopf hast. Und da, wo sie herkommen, im Norden, sind noch viel, viel mehr.“
In den endlosen Wochen der Wanderschaft nach Süden, nach Dawinno, war Husathirn Mueri Nacht für Nacht aus furchtbaren Alpträumen aufgeschreckt, in denen die Hjjk angriffen. In der Dunkelheit, im Schlaf, sah er sie über sich stehen, ihre Bürstenklauen bewegten sich, die gewaltigen Kiefermäuler mahlten krachend, die Riesenaugen funkelten von Bösartigkeit.
Das war nun fünfundzwanzig Jahre her. Aber manchmal träumte er auch heute noch von ihnen.
Sie waren eine uralte Art — die einzige von den Sechs Völkern, die in den Tagen der Glückseligkeit vor dem Langen Winter auf der Welt lebten, der es gelungen war, das Äon der qualvollen Finsternis und Kälte zu überdauern. Er empfand ihre Altersüberlegenheit als eine Art Affront, er, der selbst einem so sehr viel jüngeren Erbstamm entsprossen war, einer Linie, deren Vorfahren in den Großwelttagen schlichte — Tiere gewesen waren. Es gemahnte ihn daran, wie brüchig-fragwürdig dieser Suprematsanspruch war, den das VOLK aufzustellen versucht hatte; außerdem machte es ihm auch wieder bewußt, daß das VOLK seine derzeitigen Lebensräume quasi nur bewohnen konnte, weil anscheinend die Hjjk kein Interesse an diesen Regionen zu haben schienen — und weil die übrigen Altpopulationen der Großen Welt — die Saphiräugigen, die Seelords, die Vegetalischen, die Mechanistischen und die Menschhaften — schon seit langem den Schauplatz verlassen hatten.
Die Hjjk dagegen, die sich von dem Langen Winter im Gefolge der Todessterne nicht hatten vertreiben lassen, beherrschten noch immer den größten Teil der Welt. Das Nordland gehörte zur Gänze ihnen, möglicherweise auch ein Großteil des Ostens, obwohl dort immerhin wenigstens fünf Städte von Stämmen des VOLKES gegründet worden waren; Orte, die man allerdings in Dawinno nur dem Namen nach und gerüchteweise kannte. Diese Ansiedlungen — Gharb, Ghajnsielem, Cignoi, Bornigrayal und Thisthissima — lagen in derart weiter Ferne, daß die Verbindung zu ihnen fast ein Ding der Unmöglichkeit war. Alles übrige war von den Hjjk beherrscht. Und sie waren auch das Haupthemmnis für eine weitere Ausbreitung des VOLKES in diesen Tagen konstant wachsender Wärme im Neuen Frühling. Für Husathirn Mueri war das schlicht ‚der Feind‘, und das würden die Hjjk für ihn immer bleiben.
Er würde sie, wenn es ihm möglich wäre, allesamt vom Angesicht der Erde hinwegtilgen.
Aber er wußte — wie es auch sein Vater Trei gewußt hatte —, daß dies unmöglich war. Das Äußerste, worauf das Volk gegen die Hjjk hoffen konnte, war, daß es ihrem Andringen standzuhalten vermochte: also die bereits in Besitz genommenen Gebiete zu sichern und unbeeinträchtigt zu bewahren und ein Vordringen der Hjjk, in welcher Weise auch immer, zu verhindern. Möglicherweise würde es ja dem VOLK sogar gelingen, sie schrittweise ein wenig zurückzudrängen und ein Stückchen weit auf einige der von den Hjjk kontrollierten Regionen vorzudringen, die den eigenen völkischen Zwecken dienlich sein mochten. Aber die Vorstellung — wie sie bekanntlich von einigen anderen Prinzen der Stadt gehätschelt wurde —, daß man die Hjjk insgesamt niederwerfen könne, war nach Husathirn Mueris klarer Erkenntnis schlichter Aberwitz.
Dieser Feind war unbesiegbar. Und so würde es immer bleiben.
„Es gibt noch eine andere Möglichkeit“, sagte Curabayn Bangkea.
„Und die wäre?“
„Daß der Junge nicht nur ein Überläufer ist, sondern praktisch so eine Art Gesandter von den Hjjksen.“
„Ein — was?“
„Ist ja nur ’ne Vermutung, deine Throngnaden. Wir haben keinerlei Beweis, bitte das zur Kenntnis zu nehmen. Aber da ist was an dem Kerl — dem Jüngling. die Art, wie er sich beträgt. so ruhig, so höflich, so — also, so ernsthaft. und wie er sich bemüht, uns etwas zu sagen. immer wieder mal ein Wort wie Frieden oder Liebe oder die Königin... also, ganz ehrlich, deine Lordgnaden, mir kommt der einfach nicht so vor, als wie wenn er ein ordinärer Ausreißer wäre. Mir ist da so urplötzlich die Idee gekommen, daß der vielleicht sowas wie ’ne Art Botschafter ist sozusagen, ein Abgesandter, den uns die wunderbare Königin dieses Ungeziefervolks geschickt hat, damit er uns eine besondere Botschaft oder so überbringt. Also, das ist jedenfalls, was ich glaube, deine Throngnaden. Falls du mir die Aufdringlichkeit vergeben willst.“
„Ein Botschafter?“ Husathrin Mueri schüttelte den Kopf. „Bei allen Göttern, was für einen Grund könnten die haben, uns einen Botschafter zu senden?“
Curabayn Bangkea stierte ihn ausdruckslos an, bot aber keine weitere Erklärung.
Wutbebend erhob sich Husathirn Mueri vom Richterthron und schoß in gleitender Bewegung davor auf und ab. Die Hände hatte er auf dem Rücken verschränkt.
Curabayn Bangkea war kein Idiot; so zögerlich er seine Einschätzung der Sache auch vorbrachte, sie verdiente Beachtung. Und wenn die Hjjks tatsächlich einen Emissär geschickt hatten, jemand, der im VOLK geboren war, jedoch so lange Zeit unter den Wanzen gelebt hatte, daß er seine eigene Wiegensprache vergessen hatte und nur noch des groben knirschenden Geschnarres der Hjjk fähig war.
Während er auf und ab stapfte, drängte sich einer der Kaufleute an ihn, zupfte ihn an der Amtsschärpe, um so seine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Husathirn Mueris Augen blitzen zornig, und er hob den Arm, wie um den Mann zu schlagen. Der Kaufmann blickte ihn erstaunt an.
Im letzten Augenblick konnte er sich zurückhalten. „Euer Fall wird zur weiteren Untersuchung vertagt“, beschied er den Händler. „Findet euch wieder vor Gericht ein, wenn ich das nächstemal den Stuhl innehabe.“
„Und wann mag dies sein, deine Lordschaft?“
„Woher soll ich das wissen, du Tor? Lies die Anzeigetafeln!“ Husathirn Mueris Finger bebten. Er war dabei, die Haltung zu verlieren, und dies beunruhigte ihn gelinde. „Nächste Woche muß es sein, an Friit oder Dawinno, glaube ich“, sagte er, ein wenig milder. „Jetzt geh! Geh!“
Die Kaufleute stoben davon. Er wandte sich dem Wachhauptmann zu. „Wo befindet sich dieser Hjjk-Gesandte jetzt?“
„Deine Thron-Gnaden, es war doch nur eine bloße Vermutung, daß ich ihn einen Abgesandten nannte. Ich kann nicht mit Gewißheit sagen, daß er wirklich sowas ist.“
„Sei dem, wie es wolle — wo ist er?“
„Gleich hier. Draußen, in der Verwahrzelle.“
„Dann bring ihn herein!“
Er ließ sich wieder auf den Thron nieder. Er war verärgert, verwirrt und ungeduldig, Es verstrichen einige Augenblicke. Er tat sein möglichstes, um sich wieder unter Kontrolle zu bringen; er baute in seinem Innern einen Kern der Ruhe auf, wie ihn seine Mutter Torlyri das gelehrt hatte. Heftigkeit führte stets nur zu Fehleinschätzung und Irrung. Sie selber — möge die Seele dieser warmherzigen, sanftmütigen Frau im Frieden der Götter ruhen! — war weit weniger feinnervig und reizbar gewesen. Doch Husathirn Mueri war eben ein Mischling und behaftet mit der Stärke und der Gefühlsintensität der Mischrassischen, aber auch mit deren Mängeln. In seiner Entstehung hatte sich schattenhaft die spätere Verschmelzung der zwei Stämme vorgezeichnet. Torlyri war die Opferfrau des Koshmar-Stammes gewesen, und der unbezwingbare Beng-Krieger Husathirn hatte die koshmarische Priesterin zu unerwarteter Liebe und ganz unschicklicher Kopulation und Partnerschaft hingerissen, vor langer Zeit, als das Volk der Beng und das der Koshmari noch in unbehaglicher Zwangsnachbarschaft in Vengiboneeza lebten.