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Im Schütze der Wand liefen sie los… ein paar Meter… hielten wieder… spähten umher…

Oben neben dem Turmbau, über dem Gesims, blitzte es auf. Direkt vor ihnen sauste etwas Helles, Rundes nieder und zersplitterte. Sie hatten keine Zeit mehr, etwas zu denken – da waren sie schon in tausend formlose Fetzen gerissen.

Der zweite Versuch

1

»Da wären wir also«, sagte Don.

»Nichts hat sich verändert«, bemerkte Katja.

»Was soll sich auch verändert haben?« fragte Al.

Am Morgen waren sie von ihrem Lagerplatz aufgebrochen, und nun, zu Mittag, hatten sie die Mauer erreicht. René war mit ihnen gekommen. Sie standen wieder an jener Stelle, von der die Treppe zum Aussichtsplatz hinaufführte.

»Meinst du, daß es hier gelingt?« fragte er.

»Hier so gut wie anderswo«, antwortete Al. »Ich glaube nicht, daß es überhaupt ein Hindernis gibt.«

Katja staunte.

»Denk doch an die Brücke!«

»Ich habe viel darüber nachgedacht«, sagte Al. »Die Brücke hört auf. Das stimmt. Aber einfach deshalb, weil innen eine solche alte Brücke nichts zu suchen hat.«

»Versteh’ ich nicht«, brummte Don.

»Wir wollen einen Versuch machen«, schlug Al vor. »Kommt mit mir!«

Er stieg die Treppen hinauf, ein Bündel, das er vom Lager mitgebracht hatte, unter den Arm geklemmt. Vor der letzten Stufe wartete er auf die Kameraden und betrachtete dabei eingehend die steinerne Brüstung. Schließlich nickte er befriedigt. Er deutete auf eine Stelle an der rechten Seite: Hier war ein winziger grauer glänzender Knopf eingelassen. Suchend trat Al an die linke Seite: Hier befand sich in gleicher Höhe ein ebensolcher Knopf.

»Nun paßt auf!« bat er.

Er lehnte sich an das Geländer und blickte hinunter. Diesmal war die Beleuchtung etwas anders als seinerzeit am Abend; die Strahlen der Sonne fielen fast senkrecht von oben ein – das Licht lag blendend auf den Dächern, aber die Tiefen der Gassen und Höfe sahen um so düsterer aus – die geringe Neigung des Einstrahlwinkels genügte, um das Licht schon in den oberen Partien aufzufangen, an den überragenden Dachrändern, an den ausladenden Gesimsen, an den Zahnreihen der Zinnen, an den vogelnestartigen Erkern und Balkönchen, an all den Anbauten und Verzierungen, die ohne ersichtlichen Grund jede freie Stelle überdeckten. Sie brachen die klaren Linien der Umrisse und verniedlichten das imposante Bild der Gebäudeblocks.

Der Hof, in dem sich das seltsame Duell abgespielt hatte, lag wie ein schwarzer Abgrund vor ihnen. Wie damals überkam sie eine seltsame Stimmung, die Luft war voll von unbestimmten Geräuschen, es sauste, hallte und pfiff, hämmerte und klirrte, dumpfe Rufe erschollen, der Wind brachte Fetzen von Poltern und Geschrei mit sich…

Und dann tauchten die schwarzen Schemen wieder auf, mit ihren Fackeln, die nun wie müde Irrlichter funkelten, und dann die beiden Reiter…

Alles wickelte sich ab, wie sie es schon einmal erlebt hatten, das Peitschenduell, der Sieg des weißen Ritters, sein stummer Gruß, der Abzug der Vermummten…

Dann lag alles still und verlassen wie zuvor, kein lebendes Wesen ließ sich blicken, kein Hauch bewegte die Luft…

René, der das Ereignis zum erstenmal gesehen hatte, brauchte einige Zeit, um sich von seinem Staunen zu erholen. Katja flüsterte: »Das begreife ich nicht«, und Don rief: »… genauso wie beim erstenmal! Keine Bewegung war anders! Al, ist es ein Schauspiel?«

»So etwas Ähnliches«, sagte Al. »Eine Art Film. Die vollkommene Illusion mit technischen Mitteln. Das Publikum betritt die Bühne, eine Selenzelle registriert es«, er deutete auf die beiden Knöpfe im Geländer, »und gibt die Meldung weiter – das Theater beginnt.«

»Wie bist du darauf gekommen?« fragte Don.

»Durch eine Erinnerung. In einer alten Fernsehaufzeichnung sah ich einmal etwas Ähnliches. Bewegliche Figuren waren mit einer Uhr gekoppelt. Schlag Mittag bewegten sie sich über eine Schiene nach außen und führten ein Tänzchen auf – mit eigenartig leblosen, marionettenhaften Bewegungen. Danach verschwanden sie wieder. Hier ist die Illusion natürlich viel perfekter. Und doch… dieser Einsatz genau in dem Moment, als wir die Rampe betraten! Da fiel mir das Figurenspiel ein – und ich hatte die Lösung.«

»Und warum hast du nichts davon gesagt?« fragte Don mißtrauisch.

»Ich hätte es nicht beweisen können.«

Sie blickten wieder hinein in den Kessel, dorthin, wo sich der Hügel mit der Ruine erhob.

»Was ist wahr daran?« fragte René.

»Nichts«, sagte Al. »Ich glaube: nichts.« Die Kameraden schauten ihn kopfschüttelnd an. Er griff in die Tasche und holte einige Kiesel heraus. »Paßt gut auf!«

In großem Bogen warf er einen Stein hinunter. Ruhig durchflog dieser seine Parabelbahn… verschwand unter dem Wasserspiegel. René kam irgend etwas unrichtig vor, aber er wußte nicht, was. Der Stein flog… und war verschwunden – da fehlte etwas, richtig: Er war nicht aufgeschlagen. Kein Spritzer war aufgeschäumt, keine Wellen hatten ihre Kreise durchwandert.

»Es gibt kein Wasser«, sagte René. »Das Wasser gehört zum Spiel.«

»… und die Häuser, die Straßen, der Hügel…«, sagte Al.

»Eine Kulisse«, sagte René.

Don drängte sich zwischen Katja und Al. In seinen Augen lag etwas Gehetztes.

»Aber was steckt dahinter?«

»Das weiß ich nicht«, antwortete Al. Er öffnete die Plastiktasche, die er mitgebracht hatte, und nahm daraus eine zu einer engen Rolle zusammengedrehte Leiter. Die Sprossen bestanden aus Leichtstahl, die Seile aus Duraluminiumdraht. Er holte noch ein kurzes Litzenstück hervor, an dessen Enden Ringe befestigt waren. Dieses schlang er dreimal um den oberen balkenartigen Horizontalteil der Brüstung und klemmte die Ringe in Karabinerhaken am Ende der Leiter. Dadurch war ihr eines Ende oben befestigt, das andere ließ er hinunterfallen. Das Leiternbündel entrollte sich im Sturz, unbehindert tauchte es ins Wasser, die Leiter schwang noch einmal hin und her und hing dann ruhig.

»Ich gehe zuerst«, sagte Don und sah sich fragend um. Da keiner widersprach, stieg er über die Brüstung und kletterte hinunter. Sprosse um Sprosse kam er tiefer, berührte den Wasserspiegel, aber er spiegelte sich nicht darin, er tauchte hinein, aber er spürte keine Feuchtigkeit, er tauchte unter, doch er konnte atmen. Er hatte die Absicht gehabt, zu rufen, aber er blickte umher und war sprachlos…

Die beiden Kameraden kletterten hinterher, erst Al und dann René. Katja beobachtete alle drei, wie das dunkle, schillernde Etwas dort unten sie verschlang. Es ging mit beängstigender Lautlosigkeit vor sich, keine Bewegung lief über die Fläche, die Leiter zitterte ein wenig und hielt dann still. Als der letzte fort war, kam sie sich unbeschreiblich einsam vor. Sie setzte an, über die Brüstung zu steigen, aber sie stockte; sie bemühte sich, aber sie brachte es nicht zuwege. Sie starrte hinüber zur Burg, aber sie erblickte die Mauern und Türme nicht, sie sah durch sie hindurch; mit allem, was in ihr empfinden konnte, bemühte sie sich, den Schleier zu durchdringen, hinter den Vorhang zu sehen, doch nichts gab sich ihr preis als Schreckbilder ihrer Phantasie, deren Unstimmigkeit sie sich bewußt war und die sie doch peinigten.

Dann rief eine Stimme von unten einige Worte, die sie nicht genau verstand, ihren Namen und irgend etwas Beruhigendes. Plötzlich war sie wieder fähig zu handeln. Sie stieg die Sprossen abwärts und erlebte es, wie es die anderen kurz vorher erlebt hatten. Sie hing im Wasser, oder richtiger, in dem, was von außen wie Wasser aussah, ihre Augen senkten sich hinunter zur Oberfläche… und dann flimmerte etwas und verzerrte sich, etwas schlug um, etwas Schwankendes lief zu einer festen Form zusammen…