Von Wasser war nichts mehr zu bemerken. Sie stand mit den anderen auf einer stumpf blinkenden Metallfläche, die direkt an der Mauer lag, und dort, wo früher ein Stück Mittelalter wach gewesen war, standen luftige Gebäude mit gläsernen Dächern, auf bleistiftdünne Säulen gestützt, erstreckten sich Mauern aus Drahtgeflecht, schlangen sich Rohre, wie hingegossen in langen parallelen Strängen, ragten Antennen und Parabolspiegel auf Gestängekonstruktionen hoch empor, lagen und standen Dinge aus Metall und Kunststoff und Glas, für die es keine Namen gibt.
Das war das wahre Zentrum der Stadt. Ein ungeheurer, blinkender Leib aus Maschinen.
2
Al lehnte mit dem Rücken an der Mauer, als wolle er die letzte Verbindung mit der normalen Welt so lange wie möglich aufrechterhalten. Don bemühte sich, in den Gebilden vor ihm etwas Bekanntes oder zumindest etwas Erklärliches zu finden, das ihm geholfen hätte, das Gleichgewicht wiederzuerlangen. Katja suchte nach einer Gelegenheit zum Niedersetzen, doch sie suchte vergeblich – die Konstrukteure dieses Freigeländes hatten menschlichen Bedürfnissen nicht Rechnung getragen. René scharrte mit dem Fuß über den Boden, hockte sich nieder, klopfte mit den Knöcheln auf die feste, graue Masse, stand auf und wartete geduldig.
»Sieht nun erheblich anders aus«, bemerkte Don. »Von der Altstadt – oder von ihrem Spiegelbild – ist nichts mehr zu sehen.« Er blickte auf die Leiter, die einzige Verbindung mit außen. Sie hing gestreckt und glatt an der Wand, keine Verzerrung, keine Schliere verriet, daß sie eine Zone durchlief, die auf unerklärliche Weise optisch aktiviert war.
»Mir gefällt es hier nicht«, murrte Kat, »es ist so…« Sie suchte nach einem passenden Wort, aber sie fand keines.
»Ungemütlich«, sagte Al mit leichtem Spott. Katja überlegte angestrengt.
»Andersartig«, sagte sie. »Fremd.«
»Wir müssen weiter«, drängte Don.
»Wo willst du hin?« fragte René.
»Jetzt hört mir zu!« Al sprach lauter und bestimmter, als es seine Art war. »Wir haben uns entschlossen, es noch einmal zu versuchen. Schön – jetzt sind wir da, wo wir vor drei Tagen aufgehört haben. Aber wir dürfen nicht glauben, daß es einfach so weitergeht wie vorher. Daß wir einfach draufloszurennen brauchen wie in einem Naturschutzpark und daß sich das, was wir finden wollen, von selbst am Weg einfinden wird. Das hier kann gefährlich werden, das ist doch nicht zu übersehen? Hier gibt…«
»Du meinst also doch, daß sie noch leben?« unterbrach Katja und zog sich unauffällig zur Leiter zurück.
»Ich glaube, daß sie ihren Weg zu Ende gegangen sind. Das Unheimliche daran ist aber das: Wir wissen nicht, wie sie sich weiterentwickelt haben – nachdem das Stadium des süßen Nichtstuns in ihren Gartenhäusern vorbei war. Wir wissen ja auch von uns selbst nicht, wie wir uns weiterentwickeln werden. Und darum werden wir hier auf Dinge stoßen, wie wir sie noch nie gefunden haben, auf Maschinen, deren Verhalten wir nicht voraussehen können…«
»Wie soll sich eine Maschine schon verhalten?« fragte Don. »Man drückt auf einen Knopf – und sie tut das, worauf sie eingestellt ist.«
»Es kann auch komplizierter sein«, meinte René. »Man braucht gar nicht zu drücken – sie tut von selbst, was nötig ist.«
»… was ihr Programm vorschreibt«, verbesserte Al. »Aber was geschieht, wenn sie das Programm selbst aufstellt?«
Die Frage hing lange in der Luft. Katja konnte sich nicht ausmalen, was dann geschehen würde, es interessierte sie auch nicht. Sie fragte sich, ob sie es nicht zu Hause schöner hätte, sie dachte an die Erlebnisfilme, die nie so anstrengend waren wie dieser Ausflug, wo nie so lange geredet wurde. Wo Helden mit Einmannraketen Kämpfe ausfochten und sie dann in die Arme des Siegers sank, wo sie mit den Idolen der klassischen Zeit tanzte, mit Fred Astaire und Frank Sinatra, wo sie Kleopatra war, regierte, verurteilte und verführte – wo Cäsar und Augustus ihr zu Füßen lagen. Sie dachte an die ferngelenkten Spielboxen, die an jedes Pult angeschlossen waren, an die rollenden, hüpfenden und schwebenden Kugeln, an das Geklingel der Treffer und an den scharfen Knall ihres Zerspringens bei Verlustpunkten. Sie dachte an die Farben- und Formentänze, an das Schweben in den plastischen Räumen, an die Gemische aus der Geschmacks- und Duftorgel… komischerweise gelang es ihr nicht, sich dafür zu begeistern. Ist ja eigentlich auch recht langweilig, dachte sie, vielleicht geschieht hier doch noch etwas. Schläfrig lehnte sie sich zurück und schloß die Augen.
Was geschieht, wenn sie das Programm selbst aufstellt?
Don besaß Phantasie. Vor seinem geistigen Auge begannen Maschinen zu quellen, zu sprießen, zu wuchern, Leitungen spalteten sich, Pfeiler bogen sich, Wände beulten sich aus, ein irres Chaos aus Speichen, Rädern, T-Trägern, Kolben, Röhren, Kugelketten, aus Draht, Transistoren, Thermoelementen, Magneten, Rubidiumkristallen, Relais, Potentiometern aus Glasfasern, Polyesterharzen, Viskosewolle, Kautschuk, Schlacke und Gelatine wurde lebendig. Wie die Triebe entarteter Pflanzen tasteten Metallkrallen umher, wie ein raffiniertes Folterwerkzeug schockte eine willensbefähigte Schaltung ihr Opfer, wie ein Polyp quoll eine blasig aufgetriebene Masse auseinander und schnellte klebrige Fangarme vor. Wahnsinnig gewordene Roboter stürzten sich auf hilflose, an ihre Stühle gefesselte Menschen, ganze Heere brachen wie ein einziger Keil aus Haß und Vernichtung durch die Flachbauten der friedegewohnten Siedlungen…
Diese Vorstellungen regten Don auf unheimliche Art auf, sie erzeugten Ekel und Furcht, doch sie sensibilisierten auch die Abwehrbereitschaft, die Kraft zur Auflehnung, zur Rache…
Das Bild verschwand, vor Don breitete sich wieder die saubere, von unverständlicher, aber unleugbarer Ordnung erfüllte Fläche einer fremdartigen Technik aus. Er verzog verächtlich die Lippen und wandte sich zu den Gefährten zurück.
Was geschieht, wenn sie das Programm selbst aufstellt?
René hatte eine besondere Beziehung zu Maschinen. Er begriff sie, wie andere ein Musikstück begreifen, er verstand viel von ihnen, vom Ineinandergreifen der Räder, vom Zusammenspiel der Schaltelemente, von den Kräften in Stoff, Luft und Vakuum, und wo sein Verstehen endete, begann die Überzeugung von der Sinnfälligkeit in den tausenderlei Bewegungen und Impulsen, in den Wirkungen und Rückwirkungen, im Kreisen, Strömen, Vibrieren, in Aktion und Resultat. Die Maschine, die sich selbst das Ziel setzt, wurde für ihn das Sinnbild des Funktionellen, das Symbol des Sinnfälligen, des von der Willkür Gereinigten – Part pour Part in höchster, nicht mehr zu übertreffender Potenz. Sollten diese Gebilde vor ihm…? Er stimmte Al nicht zu. Sie mochten Produkt bemerkenswerter Intelligenz sein – Maschinen, die für sich selbst da sind, waren sie nicht. Denn: Sie funktionierten nicht. Er bemerkte keine Bewegung in ihnen und spürte auch nicht jenes besondere Fluidum, das von stromdurchflossenen Leitern, von pulsierenden Elektronen, von schwingenden Feldern ausgeht…
Am Ende seines Überlegens stand Enttäuschung.
»Du machst mich noch ganz trübsinnig mit deinem Gerede«, sagte Don. »Was willst du eigentlich? Glaubst du, daß uns hier jemand überfällt.«
Al wollte Antwort geben. Er sah Don an, sah Katja an, sah René an; sie verstanden nicht, um was es ging. Er schwieg.
»Darauf kommt es doch an«, sagte Don. »Wir wollen real denken! Wir können es uns nicht leisten, daß wir noch einmal umkommen. Jak ist sicher schon hier. Er ist uns drei Tage voraus. Wenn er noch nicht am Ziel ist, dann haben wir Glück gehabt. Jak ist die größte Gefahr. Und jetzt, Al, jetzt sprich dich endlich aus. Was hat der ganze Zauber zu bedeuten?«