»Ich glaube, die Altstadt samt den Figuren und ihrem Treiben ist eine Attraktion. Wahrscheinlich gibt es an anderen Stellen der Mauer weitere Aussichtsrampen, von denen aus man ähnliche Abläufe beobachten kann. In Wirklichkeit liegen hier im Zentrum die Maschinen, die das alles hervorbringen, aber noch ganz andere Aufgaben hatten – nämlich die Energie für die Einwohner zu produzieren, für ihre Nahrung, ihre Bequemlichkeit und ihr Vergnügen zu sorgen, nicht viel anders, als sie das bei uns heute noch tun.«
»Ich muß noch einmal fragen«, sagte Don ungeduldig: »Wie kann uns die Maschinerie gefährlich werden?«
»Wie soll ich das wissen?« fragte Al leicht verärgert zurück. »Ich hab’ dir gesagt, was ich weiß – jetzt zieh selbst deine Schlüsse!«
René trat einen Schritt vor.
»Was soll es für Gefahren geben? Die Anlage ist für Intelligenzwesen gebaut – je vollkommener sie ist, um so mehr wird sie ihren Wünschen entgegenkommen.«
»Davon merke ich nichts«, sagte Kat und stand auf. »Hier gibt es nicht einmal Bänke. Wenn du recht hättest, dann müßte uns zumindest ein Taxi abholen. Diese Latscherei geht mir auf die Nerven.« Sie trat einige Schritte von der Mauer weg, über den horizontalen Ring, auf dem sie angekommen waren, in eine breite Straße hinein, die von Gitterkonstruktionen gesäumt war.
Sie überschritt eine Grenze…
»Oh, seht doch!« rief René.
Ein schiefergraues Gebilde glitt auf Kat zu, die vielfach durchbrochene Stirnseite stockte kurz vor ihr, dann wandte sich der Schemen und drehte dem Mädchen die Flanke zu. Der Rand schob sich auseinander, man sah hinein – in eine glasüberdachte Mulde, ähnlich dem Inneren eines Bootes, mit dick gepolsterten Bänken ringsherum. Ein Brett schob sich heraus, entfaltete sich und überbrückte den Raum zwischen Schwelle und Straßenboden.
»Fein«, rief Kat. »Gerade das habe ich mir gewünscht!« Mit einem Schritt war sie darin. »Kommt!«
»Halt, seid vorsichtig!« rief Al, doch Don lachte nur und stieg ebenfalls ein. Als ihnen René ohne Zögern folgte, stieg auch Al in das Boot. Don war nach vorn gegangen, von wo man durch das Glas über die Vorderfront in Fahrtrichtung blicken konnte. »Wo ist die Steuerung?« fragte er.
Es gab keine Steuerung. Es gab absolut nichts, was einer Steuerung auch nur im entferntesten ähnelte.
»Wie sollen wir von hier wegkommen?« fragte Don.
Die Rampe glitt einwärts, die Schiebetür schloß sich. Das Fahrzeug setzte sich in Bewegung.
»Halt!« rief Don. »Wo geht es hin?« Er suchte nach einer Bremse. Es gab keine Bremse. Er suchte eine Türklinke, einen Knauf, ein Schloß. Es gab nur glatte Wand, Polster und Glas. »Ich fürchte, wir sind gefangen«, sagte Al.
3
Hinter dem starkgewölbten Glasdach glitten die Dinge vorbei, die sie schon aus der Ferne gesehen hatten, ohne ihnen Sinn abgewinnen zu können.
Don trat zornig gegen die Tür, sein einziger Erfolg waren jedoch schmerzende Füße.
»Wie kommen wir hinaus?« fragte René. »Es muß doch eine Möglichkeit geben, hinauszukommen.«
Al war in den Anblick Katjas versunken, die vergnügt auf den federnden Sitzen schaukelte. Eine Spur von Neid wurde in ihm lebendig – der Neid des Grüblers vor der seligmachenden Gedankenlosigkeit.
»Wie wir hier hinauskommen?« wiederholte er. »Ganz einfach: Wir brauchen nur das richtige zu sagen oder zu denken.«
Don drehte sich gereizt herum:
»Aber das können wir ja nicht!«
»Eben«, sagte Al.
René ging zu dem Bug vor und befahl laut: »Halt! Stehenbleiben! Stop!« Und nach einer Weile, als sich nichts am Tempo ihrer Schwebefahrt geändert hatte, entschuldigend: »Es hätte ja sein können.«
»Was nun?« fragte Don.
»Abwarten«, riet Al.
Ein Netzwerk von Metall glitt an ihnen vorbei, Gespinste aus weißen Fäden zeichneten Ornamente in schwarze Rahmen, Glas blinkte kalt in der Sonnenstrahlung, Lichtreflexe umrandeten die Schattenzeichen auf dem grauen Boden. Wenn das Boot um eine Ecke bog, drehte sich alles wie auf einer Schwenkbühne. Dann verringerte es die Geschwindigkeit, blieb stehen und bewegte sich im rechten Winkel gegen die Fahrtrichtung nach rechts, bis es an der Wand eines großen blockartigen Baus lag.
Die Tür klaffte auf, und in der Wand öffnete sich gleichfalls eine Tür mit derselben lichten Weite.
»Aussteigen!« rief René.
Katja saß nun unbewegt – wie erfroren.
»Nicht so eilig«, rief Don. »Wer sagt, daß ich aussteigen will?«
René stand ruhig von der Bank auf und trat durch die Öffnung. Es klickte… ein heller horizontaler Strich lief von oben nach unten, René war von der Dämmerung verschluckt. Don sagte »Na ja« und folgte seinem Beispiel. Wieder erschien der Strich, ertönte das klickende Geräusch. Al blickte in den anschließenden Raum hinein, der fahl erleuchtet war, ohne daß man hätte sagen können, woher das Licht kam.
»Hallo, René! Hallo, Don!«
Er lauschte, doch er bekam keine Antwort. Er rief noch einmaclass="underline" »Hallo, Don!«
… nichts.
Er spürte die zarte Berührung von Fingern an seinem Hals… Er drehte sich um. Vor ihm stand Katja. Ihre Augen blickten ungewöhnlich dunkel. Jetzt griff sie fester zu, ihre Hände umklammerten seine Schultern, zogen ihn weg von der unheimlichen Pforte ins Ungewisse. Sie drängte sich an ihn, schutzsuchend, bereit, den Eindruck des Unheimlichen durch etwas Unmittelbareres zu übertönen, besessen vom Wunsch nach menschlicher Berührung, nach Betäubung, nach Vergessen – und wenn es nur Sekunden waren. Sie drängte sich an ihn, schloß die Augen, küßte und ließ sich küssen, sie sah und hörte, hoffte und fürchtete nichts mehr, weil sie nichts sehen oder hören, hoffen oder fürchten wollte. Sie gab sich allen angenehmen, einschläfernden und zugleich aufregenden Empfindungen erwartungsvoll hin, versuchte aus der Wirklichkeit, aus Schwingungen, Elektronen, Atomen, Metall und Kunststoff, Schaltungen, Bildern und Absichten zu flüchten – in einen Strudel schwindelerregender Gefühle –, und es gelang ihr mit all jener Vollkommenheit, die sie sich wünschte. Einen kleinen Rest der Wirklichkeit aber hielt sie in diesen Momenten bewußt in sich lebendig, und in irgendeinem dunklen Winkel ihres Empfindens kostete sie gerade das Seltsame, das Absurde, das Widerspruchsvolle der Situation bis zur Neige aus.
Als die berauschende Verwirrung in Al ein wenig zum Abklingen kam und er sich der Notwendigkeit der Gegenwart besann, bemerkte er fast erstaunt, daß sich nichts geändert hatte. Niemand schien sie zum Eintreten zwingen zu wollen, niemand schien etwas dagegen zu haben, daß sie sich aufhielten, so lange sie wollten. Allerdings stand die Tür nach wie vor einladend offen; das Boot lag an derselben Stelle und – genaugenommen war auch das eine Art Zwang: sogar unentrinnbarer als jede Gewaltmaßnahme.
»Es wird uns nichts anderes übrigbleiben«, sagte Al leise. Er hatte einen Arm um Katjas Schulter gelegt und trat mit ihr in die Pforte und durch sie hindurch…
Im selben Moment, als sie die Schwelle überschritten, fuhr der helle Strich wie ein weicher Blitz zwischen sie. Es war, als würde eine Wand heruntergezogen – sie waren getrennt.
Al stand in einer grauen Kabine – ein blendender Lichtschein zuckte auf, für einen Moment senkte sich Dunkelheit wie ein schwarzes Tuch über ihn, dann bewegte sich der Boden und er sich mit ihm auf die leere Wand zu. Ganz dicht an seinem Körper glitt sie auseinander und schloß sich gleich wieder. Wieder stand er in einer Kabine, die rechte Seite war mit einem Raster verkleidet, hinter dem leises Rauschen hervordrang. Ein schwacher Knall, das Rauschen war wie abgerissen. Der Boden bewegte sich… die Wand machte ihm Platz, schloß sich wieder… etwas wehte wirbelnd vom Boden auf… stieg über ihn hinweg… ein leichter Geruch nach Chemikalien lag in der Luft… der Boden bewegte sich… die Wand glitt auseinander…