»Eine gute Idee«, sagte Al und zwinkerte Kat zu, denn er meinte, daß sie sich auch über Dons Erregbarkeit lustig machte; sie aber sah ihn groß an und ging still hinter Don her.
Sie verließen nun die Zone der Ordnung und der Sauberkeit. Die Häuser rechts und links rückten aneinander und bildeten nun erst Zwischenräume, die man als Straßen bezeichnen konnte. Die Bauten bestanden aus verschiedenfarbigem und wahrscheinlich auch verschiedenartigem Material. Manche waren groß, manche klein – jedes schien so geformt zu sein, wie es dem Erbauer gerade eingefallen war. Und sie waren nicht mehr intakt. Farbe blätterte von Wänden ab, schwammige Verwitterungsprodukte füllten Nischen und Ecken, in langgestreckten Öffnungen, die wahrscheinlich Fenster waren, ringelten sich Fetzen eines durchsichtigen Stoffes.
Es gab aber auch Zerstörungen, die nicht auf das Alter, sondern auf Einflüsse von außen zurückzuführen waren: Risse in den Mauern, eingestürzte Dächer, verkohlte Ruinen. An einigen Stellen waren auch die Spuren von Ausbesserungsarbeiten festzustellen: Manche Sprünge waren mit einer mörtelähnlichen Masse ausgefüllt; über einigen Ruinen waren Notdächer errichtet.
Und dann stießen sie auf eine Trichteröffnung.
Hier gab es keine Pflanzen mehr, kein Gras und kein Buschwerk, der Weg war mit Schutt und aufwirbelnden Staubmassen überzogen. Er hörte plötzlich auf; unvermittelt brach der Boden ab; die tiefste sichtbare Stelle lag etwa fünf Meter tief – eine Mulde unter gelbem Staub. Staub klebte auch an der Trichterwand. Don kniete am Rand nieder, bückte sich und fächerte ein wenig von dem leichten, gelben Material mit dem Taschentuch beiseite. Rote, braune und schwarze, klumpig geronnene Schlacke kam zutage.
»Ein Meteorkrater!« rief Kat. »Ich habe geglaubt, die Stadt ist vor Meteoren geschützt!«
»Jetzt schon«, erklärte Al, »aber früher war sie es nicht.«
»Hm«, brummte Don und schlug sein Taschentuch aus. »Hm – den Schirm haben sie wohl erst erfunden, als sie den äußeren Gürtel zu bauen anfingen.«
Al stimmte zu.
»Wahrscheinlich hatten sie erst zu diesem Zeitpunkt gelernt, die Materie so zu beherrschen, wie sie es zuletzt konnten. Obwohl ich nicht viel von Technik verstehe, glaube ich doch, daß uns manches vollkommen unbekannt ist. Beispielsweise der Schirm. Oder der Mechanismus, der uns von den Türen ins Innere und wieder hinaus befördert hat.«
Katja blickte unbehaglich zum Himmel hinauf. Von dem Schutzschild war absolut nichts zu bemerken – und an der Existenz dessen, was man nicht sieht, beginnt man leicht zu zweifeln. Don grübelte noch immer.
»Könnte es sich nicht um das Bombardement einer feindlichen Machtgruppe gehandelt haben? Vielleicht geht es von einer Automatik aus, die heute noch in Betrieb ist, weil sie niemand abgestellt hat?«
Al schüttelte den Kopf.
»Daran glaube ich nicht. Eine solche Macht besäße wirksamere Mittel – nicht nur solche verhältnismäßig harmlosen Geschosse.«
»Na, dann vorwärts«, kommandierte Don. »Hier irgendwo muß der Aussichtsturm ja stecken!«
Vom Inneren des Häuserwirrwarrs aus war das nicht zu erkennen. Sie mußten nach Stellen suchen, von denen sie von Zeit zu Zeit zwischen den flachen Dächern hindurch einen Blick auf das hochaufragende Bauwerk werfen konnten, um die ungefähre Richtung festzustellen.
Sie bogen noch um einige Ecken und kamen dann wirklich vor dem Turm an. Obwohl auch er Spuren des Verfalls trug, schien er noch einigermaßen stabil zu sein. Im Gegensatz zu den modernen Häusern waren die Türöffnungen ohne weiteres zu erkennen.
»Sei vorsichtig«, riet Kat, als Don an die Schwelle trat. »Wenn der Beförderungsautomat defekt ist, kannst du ganz schön steckenbleiben oder zerdrückt werden!«
Don winkte lässig ab.
»Keine Sorge, Kind!«
Es schien sich tatsächlich nichts Besonderes zu ereignen. Er tauchte in den dunklen Raum, tastete nach einem Schalter und fand keinen. Allmählich gewöhnte er sich an die ungünstigen Lichtverhältnisse und begann die Umrisse der Einrichtungen zu erkennen. Links führte eine geneigte Bahn hinauf, rechts hing ein kastenartiges Gebilde in senkrechten Schienen. Don vermutete darin einen Aufzug und wandte sich einer Plastiktafel mit Druckknöpfen zu, die rechts davon in Hüfthöhe montiert war.
Auch Katja und Al hatten nun den Raum betreten. Sie warteten, bis sich ihre Augen der natürlichen Beleuchtung durch die Fenster angepaßt hatten. Jetzt zuckten sie zusammen, denn der Aufzugkasten begann aufzusteigen, wobei er eine Staubwolke verbreitete.
Sie hörten Don husten, sie beobachteten auch den Staubnebel, wie der Schatten der Aufzugkabine im freien Gestänge auffuhr.
»So komm doch herunter«, schrie Al, »glaubst du, wir wollen zu Fuß steigen?«
Oben rasselte es wieder, dann prasselte ein wenig Schutt um sie herum auf den Boden… dumpfes Getöse, ein Splittern, ein Krachen – ein dunkler Körper schlug vor ihnen auf, der Boden bebte, und das Gestänge zitterte mit sägendem Geräusch.
Al schüttelte den Staub aus den Augen und versuchte, den Nebel zu durchdringen, um sich davon zu überzeugen, daß es auch die anderen überstanden hatten.
»Das hätte ins Auge gehen können«, stöhnte er. Neben ihm tauchte Don aus dem Staub heraus. »Lebst du noch?«
»Die Hand geprellt«, preßte Don zwischen den Zähnen hervor. »Wie konnte ich so blöd sein!«
Al rang nach Atem.
»Das frage ich mich auch.«
»Na, du bist natürlich der Neunmalkluge«, zischte Don und spuckte Sandkörnchen aus.
»Deine Begriffsstutzigkeit geht mir auf die Nerven!« rief Al. »Wenn du die Sache nicht ernst nehmen willst, dann kannst du dir statt meiner jemand andern suchen!«
Aus einer Ecke kam das Wimmern von Kat.
»Kat«, rief Don, »wo bist du?«
Auch Al vergaß den Streit.
»Bist du verletzt?«
»Ja«, flüsterte Kat.
Die beiden Männer trugen das Mädchen ins Freie und legten es auf den Boden.
»Was fehlt dir, Kat?« fragte Al.
Katja weinte leise vor sich hin.
Don bewegte ihre Arme und Beine, hob ihren Kopf und versuchte, den Körper umzudrehen – da sprang Katja auf.
»Du machst mich schmutzig«, schrie sie wütend. »Laß mich los!«
»Kinder, Kinder«, mahnte Al. »Wenn nichts passiert ist, dann seid doch zufrieden! Hört auf zu streiten!«
Don war beleidigt.
»Ich gehe zu Fuß hinauf. Macht, was ihr wollt!« Er wandte sich zur Tür und trat ein.
Al schaute zweifelnd auf Katja – sie sah zwar zerrupft, aber dabei zufriedenstellend lebendig aus, und er beeilte sich, Don zu folgen. Seufzend kam Kat hinterdrein.
Der Turm war mindestens dreißig Stockwerke hoch. Vom ungewohnten Steigen außer Atem, langten sie endlich oben an. Don schien mit seiner Vermutung gar nicht so sehr danebengegriffen zu haben. Der Raum war mit einer Kuppel überdacht, einer Kuppel aus jenem Material, dessen wundersame Eigenschaften sie schon kannten – von außen glänzend, ungleichmäßig reflektierend und in allen Farben spielend, von innen durchsichtig, die Plastizität des eingefangenen Bildes unglaublich verstärkend. Vielleicht war es ihnen früher nicht aufgefallen, oder die Erscheinung wirkte hier besonders intensiv: Die Sterne hingen als verteilte Kaskaden im Raum.
Sie standen auf einer erhöhten Plattform, Schweiß lag auf ihren Stirnen, Staub klebte an den Kleidern, der überstandene Schreck war auf ihre Gesichter geschrieben – aber hier waren sie zum ersten Mal auf ihrer Fahrt dem Zauber von etwas Gewaltigem, von Menschen Nieerlebtem unterworfen, dem sich auch der Abgebrühteste unter ihnen nicht entziehen konnte.
Nach einer Weile trat Don zu einem Kästchen, das auf einem Sockel im Mittelpunkt des Raumes stand.
»Probier es du«, sagte er zu Al.
Al drehte behutsam an einem der Räder, und sie sahen sofort, was dadurch verändert wurde. Der Ausschnitt auf dem Kuppelschirm wechselte, eine Winkelsekunde Drehung des Rades warf sie Millionen Lichtjahre weit in den Raum hinaus – es war, als stünden sie zwischen den Sternen. Die ruhigen Lichter hingen zu bunten Nebeln gedrängt in der Leere, in Spiralen, Scheiben, Kugeln; Kometen schwebten dazwischen, Gaswolken rotierten. Es waren unbekannte Sterngruppen, nie beobachtete Verteilungen, aber es war doch dasselbe Weltall, das sie von der Erde aus gesehen hatten, dieselben Sterne, dieselben dunklen oder leuchtenden Materiewolken, und irgendwo, in einem versteckten Winkel, den zu suchen sie jetzt keine Muße hatten, der aber diesem wunderbaren künstlichen Auge sicher zugänglich war, stand auch die Sonne, ihre Planetenfamilie, die Eiswelt Neptuns, Saturn mit seinem Ring, die Steinwüste Mars, der Wolkenkessel Venus, Merkur, der glühende Ball, und dazwischen wanderte die Erde, die Heimat, darauf lebte der Mensch, darauf wandelte sich seine Kultur, darauf lebten und dachten, wünschten und starben jene, von denen sie selbst nur Teil waren. Keiner von ihnen hatte geglaubt, daß sie noch so staunen konnten, und jeder empfand in diesen Sekunden etwas Unaussprechliches, das die Werteskala dessen, was er erwünscht, erstrebt und schon erreicht hatte, ins Absurde und auf andere ungeahnte Art Sinnvolle umschmolz.