Ein kleiner Junge, dessen Haar noch naß von der Bürste war, erhob sich und begann mit unsagbar süßer Stimme zu sprechen: »Es begab sich aber zu der Zeit, daß ein Gebot von dem Kaiser Augustus ausging, daß alle Welt geschätzt würde.«
Die Schauspieler stellten die Weihnachtslegende dar, und Jean Mendelsohn wand sich vor Verlegenheit, als die Weisen aus dem Morgenland mit ihren Gaben erschienen. Das kleine Spiel klang mit
»Stille Nacht, heilige Nacht« aus, und im Anschluß daran sangen die Kinder im Chor »O kleine Stadt von Bethlehem«, »Die erste Weihnacht«, »Der kleine Trommler«, »Kommt, all ihr Gläubigen« und
»O heilige Nacht«. Michael bemerkte, daß Rachel nicht mitsang. Sie stand neben dem Klavier und schaute ins Publikum, während rund um sie die Stimmen ihrer Mitschüler sich im Gesang erhoben.
Als es zu Ende war, verabschiedete sich Michael von Jean und holte seine Tochter.
»Gut waren sie, nicht wahr?« sagte sie.
»Ja, sehr gut«, bestätigte er. Sie drängten sich aus dem überheizten Schulhaus und stiegen in den Wagen. Michael fuhr seine Tochter nach Hause, aber als sie dort angekommen waren, wünschte er sich, noch länger mit ihr beisammen zu bleiben. »Hast du noch Aufgaben zu machen?« fragte er.
»Nein, Miss Emmons hat uns keine gegeben, wegen des Krippenspiels.«
»Ich mach dir einen Vorschlag: gehen wir spazieren, bis wir richtig müde sind. Dann kommen wir nach Haus, trinken heiße Schokolade und gehen schlafen. Was hältst du davon?« »Mhm.«
Sie stiegen aus dem Wagen, und Rachel legte ihre im Fäustling steckende Hand in die Hand ihres Vaters. Der Himmel war bedeckt, kein Stern sichtbar. Der Wind blies rauh, aber nicht sehr heftig. »Sag mir, wenn dir kalt wird«, sagte Michael.
»Zu Neujahr haben wir auch eine Aufführung. Nicht für die Eltern, nur für die Kinder«, sagte Rachel. »Da darf ich aber schon mitsingen, nicht wahr?«
»Natürlich, Honey.« Er zog sie im Gehen an sich. »Es ist dir schwergefallen, heute abend nicht mitzusingen, nicht wahr?«
»Mhm.« Unsicher schaute sie zu ihm auf.
»Warum? Weil du als einzige da vorn gestanden bist, vor so vielen Leuten, und nicht mitgesungen hast?«
»Nicht nur deshalb. Die Lieder und die Geschichte ... Sie sind so schön.«
»Das sind sie«, stimmte er zu.
»Aber die Geschichten aus dem Alten Testament sind auch schön«, sagte sie mit Überzeugung, und er zog sie wieder an sich. »Wenn Max sich Hockeyschlittschuhe kauft, dart ich mir dann mit dem Chanukka-Geld von Großvater Abe Kunsteislaufschuhe kaufen?«
fragte sie mit sicherem Gefühl für die ihr günstige Situation.
Er lachte. »Woher weißt du überhaupt, daß du einen Chanukka-
Scheck von Großvater Abe bekommen wirst?«
»Weil wir immer einen bekommen.«
»Schön, wenn's dieses Jahr auch so ist, solltest du vielleicht mit dem Geld ein eigenes Bankkonto eröffnen.«
»Wozu?«
»Es ist gut, eigenes Geld zu haben. Fürs College. Oder nur, um es auf der Bank sicher aufzuheben für den Fall, daß du es einmal brauchst...«
Er blieb plötzlich stehen, und sie hielt es für ein Spiel und zerrte lachend an seiner Hand-aber er hatte sich der tausend Dollar erinnert, die Leslie vor ihrer Hochzeit von Tante Sally geerbt hatte.
Jenes Geldes, das sie nie für gemeinsame Ausgaben hatte heranziehen dürfen, damit sie es an irgendeinem nebulosen Tag verwenden könnte, wie sie es für gut hielte.
»Daddy!« rief Rachel begeistert und zerrte an ihm, und nun mußte er den ganzen Heimweg über bei jedem dritten Schritt ein Baum werden und wie angewurzelt dastehen.
Am Morgen verließ er nach dem Gebet den Tempel und ging hinüber zu Woodborough Saving and Loan, wo Leslie und er ihre Bankkonten hatten. Das Namensschild am Schalter teilte ihm mit, daß er mit Peter Hamilton sprach. Das war ein großer junger Mann mit energischem Kinn und einer kleinen Falte zwischen den Augen.
Sein schwarzes Haar war mit etwas Grau gesprenkelt und über den Ohren sehr kurz geschnitten, so daß er wie ein Marineleutnant in einem Ivy-League-Anzug aus braunem Flanell aussah.
Michael erinnerte sich, daß Leslie ihn einmal gefragt hatte, ob er je einem dicken Bankkassierer begegnet sei.
Hinter ihm hatten sich zwei Leute angereiht, eine Frau in mittleren Jahren und ein älterer Mann, so daß Michael sich etwas befangen fühlte, als er an die Reihe kam. Er wüßte gerne, so erklärte er Peter Hamilton, ob seine Frau heute früh Geld abgehoben habe - und während er das sagte, spürte er förmlich, wie die zwei Leute hinter ihm die Ohren spitzten.
Peter Hamilton schaute ihn an und lächelte, wobei seine Zähne nicht sichtbar wurden. »Handelt es sich um ein gemeinsames Konto, Sir?«
»Nein«, sagte Michael. »Es handelt sich um ein Konto meiner Frau.«
»Also nicht um ... hm ... gemeinsamen ehelichen Besitz?« »Wie meinen Sie?«
»Das Geld auf dem Konto gehört rechtlich zur Gänze i h r ?« »Ach so, ja, natürlich.«
»Und es ist Ihnen nicht möglich, sie ... hm ... einfach zu fragen? Ich fürchte, wir sind moralisch nicht berechtigt, zu ...«
»Kann ich den Direktor sprechen?« fragte Michael.
Das Büro des Direktors war nußgetäfelt und mit einem dicken Teppich in Rostrot ausgelegt - einer für einen Bankmann ziemlich kühnen Farbe. Arthur J. Simpson lauschte Michaels Worten mit unverbindlicher Höflichkeit, drückte, nachdem jener geendet hatte, auf einen Knopf am Haustelephon und bat, man möge ihm die Auszüge von Mrs. Kinds Konto in sein Büro bringen. »Ursprünglich war es ein Konto über tausend Dollar«, sagte Michael. »Inzwischen müßte sich der Stand um die Zinsen erhöht haben.« »Gewiß«, sagte der Bankmann, »das müßte er wohl.« Er griff nach einem Kontoblatt.
»Der Stand ist jetzt fünfzehnhundert.« »Das heißt, sie hat nichts abgehoben?«
»O doch, Rabbi, sie hat. Gestern früh war der Kontostand zweitausendneunundneunzig Dollar vierundvierzig Cent.« Mr.
Simpson lächelte. »Die Zinsen summieren sich mit der Zeit. Sie werden jährlich berechnet, wissen Sie, und der Zinsfuß erhöht sich mit steigendem Kapital.«
»Wer da hat, dem wird gegeben«, sagte Michael. »So ist es, Sir.«
Wie weit konnte sie mit sechshundert Dollar schon kommen?
Doch noch während Michael sich diese Frage stellte, gab er sich selbst die Antwort. - Weit genug.
Als abends das Telephon läutete und er ihren Namen hörte, begannen ihm die Knie zu zittern, aber wieder war es falscher Alarm: ein Anruf f ü r sie, nicht v o n ihr.
»Sie ist nicht zu Hause«, sagte er zu der Beamtin von der Vermittlung, »wer ruft denn, bitte?«
Ein Ferngespräch, wiederholte die anonyme Stimme vom Fernamt.
Wann würde Mrs. Kind zu sprechen sein?
»Ich weiß es nicht.«
»Spricht dort Mr. Kind?« fragte eine fremde weibliche Stimme. »Ja.
Rabbi Kind.«
»Ich möchte mit ihm sprechen«, sagte die fremde Stimme zur Vermittlung.
»Gewiß, Ma'am. Sprechen Sie.« Die Vermittlungsbeamtin schaltete sich aus.
»Hallo?« sagte Michael.
»Mein Name ist Potter, Mrs. Marilyn Potter« »Ja, Ma'am?« sagte Michael.
»Ich wohne gleich neben der Hastings-Kirche - in Hartford.« Mein Gott, dachte er, natürlich: sie ist für ein paar Tage zu ihrem Vater gefahren! Dann fiel ihm wieder ein, daß der Anruf aus Hartford für sie bestimmt gewesen war, und er wußte, daß es sich um etwas anderes handeln mußte. Aber was, zum Teufel, redete diese Frau nur, fragte er sich, plötzlich seiner Benommenheit gewahr werdend.