»So habe ich ihn gefunden. Es war ein Schlaganfall.« Oh.
»Besuchszeiten für Trauergäste morgen und Donnerstag von eins bis drei und von sieben bis neun. Einsegnung in der Kirche am Freitag um zwei und Begräbnis am Grace Cemetery, wie er es schriftlich festgelegt hat.«
Er dankte der fremden Frau. Er hörte ihre Beileidsworte und dankte nochmals. Er versprach, auch seiner Frau das aufrichtige Beileid von Mrs. Potter auszusprechen und dankte und verabschiedete sich.
Dann griff er unwillkürlich nach dem Schalter, löschte das Licht und saß im Dunkel, bis das Harmonikaspiel seines Sohnes ihn ins Leben zurückrief.
Am Donnerstag war sie noch immer nicht zurückgekommen.
Michael hatte kein weiteres Lebenszeichen von ihr erhalten und fühlte sich gelähmt von qualvoller Unentschlossenheit. Die Kinder sollten am Begräbnis ihres Großvaters teilnehmen, dachte er. Aber dann würden sie fragen, warum ihre Mutter nicht da sei. Vielleicht w ü r d e sie da sein, vielleicht hatte sie die Todesanzeige gelesen oder irgendwie erfahren, daß ihr Vater gestorben war. Am Ende entschloß er sich doch, Max und Rachel nichts zu sagen. Am Donnerstag nach dem schachriss stieg er in den Wagen und fuhr allein nach Hartford.
Zwei Polizisten in Uniform dirigierten die Autos zu den vorgesehenen Parkplätzen. Drinnen in der Kirche spielte die Orgel leise Hymnen, und fast all die weißen Betstühle waren besetzt.
Michael durchschritt langsam das Kirchenschiff, aber er konnte Leslie nirgends entdecken. Schließlich nahm er auf einem der wenigen noch freien Sitze Platz, in der zweitletzten Reihe neben dem Mittelgang, wo er Leslie sehen mußte, wenn sie noch käme.
Erleichtert stellte er fest, daß der mit Blumen bedeckte Sarg schon geschlossen war.
Neben ihm unterhielt sich eine Frau in mittleren Jahren mit einer jüngeren, die ihr auffallend ähnlich sah, über seinen verstorbenen Schwiegervater. Mutter und Tochter, dachte er, unverkennbar.
»Gott weiß, er war nicht vollkommen. Aber immerhin hat er hier mehr als vierzig Jahre lang sein Amt versehen. Es hätte sich einfach gehört, im Trauerhaus vorzusprechen. Schließlich hätte es dieser Frank doch wohl e i n e n Abend lang ohne dich ausgehalten, um Himmels willen.«
»Ich schau mir nicht gern Tote an«, sagte die Tochter.
»Tot! Du hättest nicht geglaubt, daß er tot ist. Er hat so vornehm ausgesehen. Direkt schön war er. Dabei hat sein Gesicht nicht hergerichtet gewirkt oder irgend so was. Wirklich, du hättest nie geglaubt, daß du einen Toten vor dir hast.«
»Ich schon«, sagte die Tochter.
Die Geistlichen erschienen, ein junger, ein alter, und einer, der zwischen den beiden etwa die Mitte hielt.
»Drei«, flüsterte die Tochter mit rauher Stimme, als sie sich zur Invocatio erhoben. »Mr. Wilson, der schon im Ruhestand ist, und Mr.
Lovejoy von der First Church. Aber wer ist der Junge?« »Er soll von Pilgrim Church in New Haven sein. Ich hab den Namen vergessen.«
Der Geistliche, den das Mädchen Mr. Lovejoy genannt hatte, sprach die Invocatio. Seine Stimme war weich und geschult, eine Stimme, die es gewohnt war, melodisch über gebeugte Häupter dahinzufließen.
Eine Hymne folgte: »Oh God, Our Help in Ages Past.« Michael stand inmitten der sich erhebenden Stimmen. Die Mutter sang nur ein paar Zeilen, müde krächzend, aber die Tochter hatte einen süßen, sich aufschwingenden Sopran und wich nur fast unmerklich von der Tonart ab.
»Eins bitte ich vom Herrn, das hätte ich gerne: daß ich im Hause des Herrn bleiben möge mein Leben lang...«
Psalm Siebenundzwanzig. Einer von unseren Psalmen, dachte Michael, und erkannte zugleich, wie sinnlos sein Stolz war. »Ein Mensch ist in seinem Leben wie Gras, er blühet wie eine Blume auf dem Felde; wenn der Wind darübergeht, so ist sie nimmer da, und ihre Stätte kennt sie nicht mehr...«
»Ich hebe meine Augen auf zu den Bergen, von welchen mir Hilfe kommt. Meine Hilfe kommt von dem Herrn, der Himmel und Erde gemacht hat...«
Psalm Hundertdrei und Psalm Hunderteinundzwanzig. Bei wie vielen Begräbnissen hatte er dieselben Texte gewählt? »Möchte aber jemand sagen: Wie werden die Toten auferstehen, und mit welcherlei Leibe werden sie kommen? Du Narr, was du säst, wird nicht lebendig, es sterbe denn. Und was du säst, ist ja nicht der Leib, der werden soll, sondern ein bloßes Korn, etwa Weizen oder der andern eines. Gott aber gibt ihm einen Leib, wie er will, und einem jeglichen von den Samen seinen eigenen Leib...«
Das war jetzt Neues Testament: schätzungsweise, dachte Michael, erster Korintherbrief.
Die Frau neben ihm verlagerte ihr Gewicht von der rechten auf die linke Hinterbacke.
»In meines Vaters Hause sind viele Wohnungen. Wenn's nicht so wäre, so wollte ich zu euch sagen: Ich gehe hin, euch die Stätte zu bereiten. Und wenn ich hingehe, euch die Stätte zu bereiten, so will ich wiederkommen und euch zu mir nehmen, auf daß ihr seid, wo ich bin. Und wo ich hingehe, das wisset ihr, und den Weg wisset ihr auch ...«
Darauf hob Mr. Lovejoy die Verdienste des Verstorbenen hervor und dankte Gott für die Verheißung des Ewigen Lebens und dafür, daß es dem dahingegangenen Reverend Rawlings vergönnt gewesen war, zur Ehre Gottes und zum Wohle aller unsterblichen Seelen zu wirken.
Dann erhob sich die Gemeinde abermals und sang » For All the Saints Who From Their Labors Rest«, und die Stimmen rund um Michael schwangen sich auf und sanken herab, und er verstand, wie es Rachel während der Weihnachtsfeier in der Schule zumute gewesen sein mußte.
Dann erteilte der alte Pfarrer den Segen, und die Orgel begann zu spielen, und die Menge strömte aus dem Gestühl in den Mittelgang und von dort zu den Toren. Michael stand da und schaute nach Leslie aus und konnte sie nirgends entdecken, stand und wartete, bis alle die Kirche verlassen hatten und nur mehr die Sargträger, um den Katafalk versammelt, zurückgeblieben waren; dann trat auch er ins Freie und schloß blinzelnd die Augen vor der Wintersonne. Er wußte nicht, wo der Friedhof gelegen war, so stieg er in seinen Wagen und wartete ein wenig und reihte sich dann in die Kavalkade der Fahrzeuge ein, die dem Leichenwagen folgten, einem neuen, sehr blank polierten, aber mit frischem Schneematsch bespritzten schwarzen Packard.
In den Rinnsalen zu beiden Seiten der Straße türmte sich schmutziger Schnee. Langsam bewegte sich der Leichenzug quer durch die Stadt und rief ein Verkehrschaos hervor, wo immer er hinkam.
Ein Fahrer, zwei Wagen hinter Michael, verlor die Nerven und brach aus der Kolonne aus. Als der blau-weiße Chevrolet an Michael vorbeifuhr, glaubte jener, auf dem Beifahrersitz Leslie zu erkennen, die sich dem jungen Mann am Steuer zuwandte und mit ihm sprach. Zwar trug sie einen kleinen Hut, der Michael unbekannt war, aber um so bekannter waren ihm das dunkelblonde Haar, der blaue Mantel und die Kopfhaltung.
»Leslie!« rief er.
Er kurbelte das Fenster hinunter und rief nochmals.
Der Wagen bog um die nächste Ecke nach links. Nachdem es Michael endlich gelungen war, sein eigenes Fahrzeug aus der Kolonne zu manövrieren und gleichfalls links abzubiegen, war von dem Chevrolet nichts mehr zu sehen. Ein riesiger Möbelwagen fuhr ihm rechts vor, nur Millimeter vom Randstein entfernt, dann überholte er einen Bus - nur um vor einer breiten Avenue vom Rotlicht aufgehalten zu werden.
Hier entdeckte er den blau-weißen Wagen wieder, der sich nach rechts gewandt hatte und, nur zwei Straßen vor Michael, soeben Grünlicht bekam und anfuhr. Michael wagte nicht, das Rotlicht an seiner Kreuzung zu überfahren; der Verkehr war sehr dicht. Als er endlich freie Fahrt bekam, ließ er den Wagen in rasendem Tempo um die Ecke schleudern, wie ein Teenager seinen Rennwagen. Die Straße stieg etwas an, und er konnte den anderen Wagen erst wieder sehen, als er am Ende der Steigung angelangt war und jener soeben von neuem links abbog; Michael folgte ihm um dieselbe Ecke und fuhr dann sehr schnell, schneller, als er je in der Stadt gefahren war, geschickt durch den Verkehr sich hindurchschlängelnd. An einer Kreuzung vier oder fünf Blocks weiter vorn mußte der Chevrolet zum Glück bei Rotlicht anhalten, und Michael kam nur drei Wagen hinter ihm zum Stehen.