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Sie speiste allein zu Abend in Hector's Cafeteria, gleich gegenüber von Radio City. Das war noch immer ein ordentliches Lokal, in dem man ungestört essen konnte. Sie war schon beim Dessert, als ein fremder Mann mit ihr anzubändeln versuchte. Er war höflich, nicht gerade abstoßend und vielleicht ein wenig jünger als sie, aber sie nahm ihn nicht zur Kenntnis, aß ruhig ihren Schokoladepudding auf und verließ dann das Lokal. Als er sich aber anschickte, ihr zu folgen, verlor sie die Geduld und wandte sich zu dem an einem türnahen Tisch sitzenden Polizisten, der eben sein Gebäck in den Kaffee tauchte. Sie fragte ihn nach der Zeit, wobei sie ihren Verfolger fixierte. Der drehte sich um und war im Nu über die Treppe zum Oberstock des Lokals verschwunden.

Sie begab sich zurück zum Hotel, halb ärgerlich, halb geschmeichelt, und ging früh zu Bett. Die Wände waren sehr dünn, und sie hörte das Paar im Nachbarzimmer der Liebe obliegen. Die beiden machten es sehr ausführlich, und die Dame war ziemlich laut und stieß fortwährend spitze, schrille Schreie aus. Obgleich der Mann sich ruhig verhielt, ließ der Lärm, den das Bett und die Dame machten, Leslie keinen Schlaf finden. Erst gegen Morgen schlummerte sie ein, doch auch da nur für kurze Zeit, denn um fünf Uhr morgens ging es abermals los, so daß ihr nichts übrigblieb, als zuzuhören.

Aber draußen wurde es heller und heller, und als die Sonne über den Dächern erschien, begann Leslie sich besser zu fühlen. Sie öffnete das Fenster und sah über das Fensterbrett gelehnt auf die New Yorker hinunter, wie sie tief unten die Gehsteige überschwemmten. Sie hatte schon fast vergessen, wie aufregend Manhattan sein konnte, und so verspürte sie der. Wunsch, auszugehen und es wieder zu erleben. Sie machte sich fertig, ging hinunter, frühstückte in einem Child's-Lokal und las dort die New York Times, wobei sie sich in die Rolle einer Büroangestellten versetzte, die auf dem Weg zum Arbeitsplatz war.

Nach dem Frühstück ging sie durch die 42nd Street bis zu dem alten Haus, in dem die Redaktion gewesen war, aber die gab es nicht mehr. Sie betrat den Times-Turm, suchte im Telephonbuch danach und sah, daß die Zeitung in die Madison Avenue übersiedelt war. Jetzt erst fiel ihr ein, daß sie seinerzeit davon gelesen hatte. Aber es arbeitete ohnehin keiner ihrer alten Kollegen mehr dort: wozu also noch hingehen?

Sie schritt weiter, durch die Nase ein-, durch den Mund ausatmend, und ganz dem Schauen hingegeben. Es war genauso wie auf dem Universitätsgelände: Objekte, an die sie sich erinnerte, waren nicht mehr da, Neubauten hatten sie ersetzt.

An der 60th Street wandte sie sich automatisch nach Westen. Schon lange vorher hielt sie nach dem Logierhaus Ausschau und fragte sich, ob sie es wohl wiedererkennen werde. Sie erkannte es wieder. Die Ziegelfassade war zwar frisch gestrichen, aber noch immer in demselben Rot. An der Tür hing noch immer die Tafel »Zimmer zu vermieten«, und sie stieg die Treppe hinauf und klopfte an die Tür des Verwalters, der sie auf Apartment 1-B verwies, wo der Eigentümer wohnte. Dieser war ein schmächtiges Männchen mittleren Alters mit sommersprossiger Glatze und schütterem, ungepflegt grauem Schnurrbart, an dessen Enden er beständig kaute.

»Könnte ich mir etwas ansehen?« fragte sie.

Er ging ihr voran, die Treppen hinauf. Im zweiten Stock fragte sie ihn, ob zufällig Nummer 2-C frei wäre, aber er verneinte. »Weshalb gerade 2-C?« fragte er und blickte sie zum erstenmal wirklich an.

»Ich hab einmal dort gewohnt«, sagte sie.

»Ach so.« Er stieg weiter die Treppen hinauf, und sie folgte ihm. »Aber Sie können im dritten Stock etwas haben, das genauso aussieht.«

»Was ist aus meiner damaligen Hauswirtin geworden?« fragte sie.

»Wie hat sie geheißen?«

Aber Leslie wußte es nicht mehr.

»Ich weiß auch nicht«, sagte er gleichmütig. »Ich habe das Haus vor vier Jahren von einem gewissen Prentiss gekauft. Er hat ein Stampigliengeschäft in der Stadt.« Er führte sie den Gang entlang. Die Wände waren noch immer von diesem unglaublich häßlichen Braun. Sie war schon entschlossen, den Rest der Woche hier zu verbringen und nur der Erinnerung zu leben, aber sobald die Zimmertür offenstand, überwältigte sie all diese schmutzige Bräune und Ungepflegtheit so sehr, daß sie nur tat, als sehe sie sich alles eingehend an, und sich dabei fragte, wie sie jemals solche Scheußlichkeit hatte ertragen können.

»Ich muß es mir noch überlegen und gebe Ihnen dann Bescheid«, sagte sie schließlich.

Zu spät merkte sie, daß das falsch gewesen war: sie hätte zuerst nach dem Preis fragen müssen.

»Sie sind aber reichlich komisch«, sagte er und kaute an seinem Schnurrbart herum. Sie verabschiedete sich rasch und lief, ohne auf ihn zu warten, davon, die Treppe hinunter, nur fort aus diesem Haus.

Sie betrat eine Muschelbar und aß dort Garnelen zu Mittag, trank dunkles Bier dazu und verbrachte den Nachmittag im Museum of Modern Arts, wobei sie mit heiterem Spott jenes Mannes in der Wellesley Universität gedachte. Zu Abend aß sie in einem kleinen französischen Restaurant und besuchte danach ein grelles, lärmendes Musical. Nachts war das Paar nebenan - sie hatte sie die Flitterwöchner getauft - wieder emsig am Werk. Diesmal redete der Mann rasch und leise auf die Dame ein, die wieder ihre Schreie ausstieß, aber Leslie konnte kein Wort verstehen.

Den folgenden Tag verbrachte sie zur Gänze im Metropolitan Museum of Arts und in der Guggenheim-Galerie. Auch am nächstfolgenden klapperte sie Museen ab. Für sechzig Dollar erwarb sie ein Gemälde von der Hand eines gewissen Leonard Gorletz. Sie hatte den Namen noch nie gehört, wollte das Bild aber für Michael. Es war das Porträt eines Mädchens mit Kätzchen. Die Kleine war schwarzhaarig, sah Rachel überhaupt nicht ähnlich, und dennoch erinnerte die Art, wie sie auf das Kätzchen blickte, an Rachels verletzliche Glückseligkeit. Leslie war so gut wie sicher, daß Michael das Bild gefallen werde.

Am nächsten Morgen bekam sie die Flitterwöchner von nebenan zu Gesicht. Sie war eben dabeigewesen, ihre Frisur vor dem Frühstück ein letztes Mal zurechtzukämmen, als sie die Tür zum Nachbarzimmer gehen hörte und Stimmen vernahm. Den Kamm fallen lassen, die Handtasche erwischen und hinter den beiden her sein war eins. Aber der Anblick, der sich ihr bot, war enttäuschend. Sie hatte animalische Schönheit zu sehen erwartet, aber der Mann wirkte klein, plump und schlaff, hatte den blauen Anzug voll Schuppen, und die Dame war dürr und nervös, mit einem scharfen, vogelhaften Profil. Dennoch musterte Leslie im Lift die beiden immer wieder mit verstohlener Bewunderung, hauptsächlich wegen der Ausdauer der Dame und der Modulationsfähigkeit ihres Soprans. Zwei Tage vergingen mit Einkäufen für ihren persönlichen Bedarf. Sie kaufte aber nur, was sie wirklich brauchte, und bewunderte alles andere nur in den Auslagen. Sie kaufte bei Lord & Taylor einen Tweedrock für Rachel, und einen dicken blauen Kaschmirpullover für Max bei Weber & Heilbroner.

Aber am Abend ging eine Veränderung mit ihr vor. Sie fand keinen Schlaf mehr und fühlte sich inmitten dieser vier Hotelzimmerwände recht elend. Nun war sie schon den sechsten Tag hier und hatte, wenn auch vielleicht ohne es zu wissen, genug von New York. Zu allem anderen war nun auch noch das Lustgekeuche der »Flitterwöchner«

verstummt: sie waren ausgezogen und hatten sie allein zurückgelassen.

An ihrer Statt wohnte jetzt jemand da drüben, der fortwährend die Wasserspülung betätigte, einen Elektrorasierer benutzte und das Fernsehen sehr laut drehte.