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Gegen Morgen begann es zu regnen; Leslie blieb länger als gewöhnlich im Bett und döste vor sich hin, bis der Hunger sie aufstehen hieß. Den ganzen regennassen Nachmittag verbrachte sie dann bei Ronald's, einem Schönheitssalon mit dem Anstrich eines ehrbaren Playboyklubs in der Nähe von Columbus Circle, wo die Kunden in buntflauschiger Vermummung von der Sauna zur Massage und von dieser zum Friseur wanderten. Sie briet bei 190 Grad Fahrenheit zur Musik der Boston Pops, die »Fiddle-Faddle« spielten, und geriet dann einem sadistischen Weibsbild unter die Fäuste, von der sie nach allen Regeln der Kunst durchgewalkt und -geknetet wurde. Ein Mädchen, das man Theresa rief, machte ihr eine Kopfwäsche, und während die rosige Gesichtscreme in ihre Poren drang, wurde Leslie von einer Helene manikürt und gleichzeitig von einer Doris pedikürt.

Als sie den Salon verließ, hatte der Regen nachgelassen. Er war zum feinen Nieseln geworden, fast schon wie Nebel. Die Broadwaylichter spiegelten sich flirrend in den vorbeifahrenden Autos und der nassen Fahrbahn. Leslie spannte den Schirm auf und wandte sich stadtwärts. Sie fühlte sich erholt und verschönt, und das einzig Wichtige war jetzt, irgendwo zu Abend zu essen. Es verlangte sie nach einem luxuriösen Restaurant - aber dann änderte sie ihren Sinn, und es war ihr plötzlich zu dumm, sich erst umständlich an einen endlich freigewordenen Platz komplimentieren zu lassen, dort ein kompliziertes Mahl zu bestellen, und das alles nur, um es dann allein aufzuessen. So blieb sie unter einer flimmernden Neonreklame stehen, spähte durch die verregneten Scheiben in das Lokal, wo irgendein Talmi-Küchenchef in hoher weißer Mütze soeben dabei war, einen gelben Omelettenberg in einer Pfanne aufzuschichten, und wurde sich nicht schlüssig. Dann ging sie doch noch einen halben Block weiter und betrat ein Horn & Hardarts-Lokal.

Sie wechselte eine Dollarnote gegen eine Handvoll Kleingeld und wählte dann eine Gemüseplatte, Tomatensaft, Parker-House-Gebäck und Fruchtgelee. Die Cafeteria war überlaufen, und Leslie mußte lange suchen, ehe sie einen freien Platz fand. Der andere Gast war ein dicker Mann mit vergnügtem Stubby-Kaye-Gesicht, der über seinem Kaffee in die Daily News vertieft war, wobei ihm die vollgepfropfte Aktentasche an den Beinen lehnte. Sie stellte ihre Teller auf den Tisch und das leere Tablett auf einen eben vorbeikommenden Servierwagen. Zu spät merkte sie, daß sie den Kaffee vergessen hatte. Aber der Kaffeeautomat stand ganz in der Nähe, und sie hatte nur wenige Schritte zu gehen. Die Tasse war ihr etwas zu voll geraten, und sie mußte sie sehr vorsichtig an ihren Tisch tragen.

Während ihrer Abwesenheit hatte jemand ein Flugblatt an ihr Juiceglas gelehnt.

Sie griff danach und las den hektographierten Titel. Er lautete: DER WAHRE FEIND.

Während sie an ihrem Tomatensaft nippte, begann sie zu lesen. »Der wahre Feind Amerikas ist gegenwärtig jene jüdisch-kommunistische Verschwörung, die uns unterwerfen will, indem sie das Blut unserer weißen christlichen Rasse mit dem minderwertigen der kannibalischen Schwarzen zu verseuchen sucht.

Lang genug haben die Juden unser Geld- und Propagandawesen mit Hilfe ihrer internationalen Kartellmachinationen kontrolliert. Nun richtet sich ihre Heimtücke auf das Erziehungswesen, um die zarten Herzen unserer Kinder zu vergiften. Was wollen wir für unsere Kinder?

Ist dir bekannt, wie viele Kommunistenschweine schon in Manhattans Schulen unterrichten?«

Leslie ließ das Machwerk auf den Tisch fallen. »Gehört das vielleicht Ihnen?« fragte sie den jungen Dickwanst.

Jetzt erst blickte er sie an.

Sie nahm das Heftchen und hielt es ihm entgegen. »Oder haben Sie gesehen, wer das hierhergelegt hat?« »Gnädigste, ich war ganz in meine Zeitung vertieft. .. bei Gott.« Er griff nach seiner Aktentasche und machte sich davon. Der eine Taschenriemen stand offen. War er das auch schon vorher gewesen? Sie konnte es nicht mehr sagen und musterte die Umsitzenden. Aber keiner nahm Notiz von ihr, jeder war mit dem Essen beschäftigt, lauter ausdruckslose Gesichter. Und jeder konnte es gewesen sein. Warum nur? wandte sie sich innerlich an all diese leeren Visagen. Was wollt ihr damit? Was gewinnt ihr damit?

Schert euch weg und laßt uns in Ruhe! Geht in den Wald und feiert dort um Mitternacht eure schwarzen Messen. Geht meinetwegen Hunde vertilgen. Legt den Pelztieren eure Schlingen, oder ersauft meinetwegen im Meer oder, besser noch, geht in die Erde hinein, und die Erde soll euch verschlingen.

Was wollen wir für unsere Kinder?

Was wir wollen? Zu allererst genug Luft, damit sie atmen können, dachte Leslie. Nur frei atmen, sonst gar nichts.

Aber die bekommst du nicht, indem du dich in einem Hotelzimmer verkriechst, dachte sie weiter. Da mußt du zunächst einmal nach Hause gehen.

Aber vorher war noch etwas Wichtiges zu erledigen, fiel ihr ein. Denn zwischen ihrem Vater und jener Person, die das da geschrieben hatte, gab es keine Gemeinsamkeit. Und so mußte sie ihrem Vater in die Augen blicken und ihm Rede und Antwort stehen: Antwort, die ihm endlich begreiflich machte, worum es hier überhaupt ging.

Am nächsten Morgen, sie saß schon im Zug, suchte sie sich zu erinnern, wann sie ihrem Vater wohl zum letztenmal etwas mitgebracht hatte, und sie verspürte den dringenden Wunsch, ihm etwas zu schenken. In Hartford stieg sie aus und kaufte bei Fox's ein Buch von Reinhold Niebur. Erst im Taxi, auf der Fahrt zur Elm Street, ersah sie aus dem Auflagedatum, daß das Buch schon vor mehreren Jahren erschienen war und ihr Vater es möglicherweise schon kannte. Im Pfarrhaus blieb auf ihr Klopfen alles still, aber das Tor war unversperrt.

»Ist jemand da?« rief sie.

Ein alter Mann trat aus der Bibliothek ihres Vaters, Notizblock und Feder in Händen. Er hatte eine weiße Löwenmähne und buschige graue Brauen.

»Ist Mr. Rawlings nicht hier?« fragte Leslie.

»Mr. Rawlings? Nein. Nicht mehr - oh, Sie wissen es noch nicht?« Er legte ihr die Hand auf den Arm. »Mein Kind, Mr. Rawlings ist tot. Nun, nun«, sagte er mit besorgter Stimme. Aber sie hörte nur noch das Buch zu Boden fallen und spürte dann, wie jemand sie zu einem Stuhl führte.

Nach einigen Minuten ließ er sie ohne jeden ersichtlichen Grund allein.

Als sie ihn dann im hinteren Teil des Hauses herumkramen hörte, erhob sie sich und trat an den Kamin. Dort erblickte sie den Gipsabguß ihrer rechten Hand. Er muß das Wachs als Gußform verwendet haben, dachte sie. In diesem Augenblick kam der Alte zurück und brachte zwei Tassen dampfenden Tees. Beide schlürften langsam, und es tat wirklich gut.

Der Alte hieß Wilson und war ein pensionierter Geistlicher, der jetzt die Kirchenbücher ihres Vaters zu ordnen hatte. »Was man eben einem alten Mann so zu tun gibt«, sagte er. »Aber ich muß sagen, in diesem Fall ist das wirklich keine Arbeit.«

»Ja, er ist sehr gewissenhaft gewesen«, sagte sie.

Sie saß zurückgelehnt und mit geschlossenen Augen. Abermals ließ der Alte sie allein. Nach einer Weile kam er wieder und fragte, ob er sie nach dem Friedhof fahren solle.

»Bitte.«

Dort angelangt, beschrieb er ihr den Weg zum Grab, blieb aber selbst im Wagen, wofür sie ihm dankbar war.

Die Erde sah noch frisch umgegraben aus, und Leslie stand davor, sah darauf nieder und dachte darüber nach, was sie jetzt wohl sagen könnte, um ihrem Vater zu zeigen, wie sehr sie ihn trotz allem geliebt hatte. Fast vermeinte sie, seine Stimme ein Kirchenlied singen zu hören, und so stimmte sie innerlich mit ein:

O Haupt voll Blut und Wunden, voll Schmerz und voller Hohn, o Haupt, zum Spott gebunden, mit einer Dornenkron, o Haupt, sonst schön gezieret mit höchster Ehr und Zier, jetzt aber hoch schimpfieret gegrüßet seist du mir.

Die letzte Strophe wäre ihr beinahe nicht mehr eingefallen, aber dann sang sie das Lied doch zu Ende: