Wenn ich einmal soll scheiden, so scheide nicht von mir, wenn ich den Tod soll leiden, so tritt du dann herfür, wenn mir am allerbängsten wird um das Herze sein, so reiß mich aus den Ängsten, kraft deiner Angst und Pein.
Das war nun ihr Geschenk gewesen. Und obwohl es jetzt zu spät war, ihm alles zu erklären, beantwortete sie seine Frage mit dem Gebet, das sie nun schon seit achtzehn Jahren für ihre Mutter sprach: »Jissgadal w'
jisskadasch ...«
Beim Schlafengehen hatte noch leichter Frost geherrscht, aber als Michael am Morgen erwachte, war Tauwetter über Neu-England hereingebrochen. Als er stadtwärts fuhr, hatten die Rinnsale sich in reißende Bäche verwandelt, und allerorten kam schon der Boden unter dem Schnee zum Vorschein, als hätte die weiße Decke Löcher bekommen.
Im Tempel brachten sie mit Müh und Not ihre neun Mann zusammen, wie das eben an manchen Tagen schon war, und auch dazu mußte er schließlich noch Benny Jacobs, den Gemeindevorsteher, anrufen und ihn bitten, ihm, dem Rabbi zu Gefallen, doch herüberzukommen, damit die minje komplett sei. Wie gewöhnlich, kam Jacobs auch. Er macht es einem leicht, Rabbiner zu sein, dachte Michael. Als er ihm aber nach dem Gebet danken wollte, wehrte Jacobs ab. »Ich fahre jetzt hinein, den Schnaps besorgen für die Tempelneujahrsparty. Möchten Sie eine besondere Marke?«
Michael lächelte. »Was das Trinken betrifft, verlaß ich mich ganz auf Sie. Bringen Sie, was Sie für gut halten, Ben.«
In seinem Arbeitszimmer sah er, daß der Terminkalender leer war, und so fuhr er heim, um die Post durchzusehen. Es waren nur die üblichen Rechnungen und der Burpee-Sämereienkatalog. Eine erholsame Stunde lang saß Michael dann über den Abbildungen der Frischgemüse und studierte die appetitanregenden Anpreisungen, ehe er seine Bestellung machte. Sie glich ganz der des Vorjahrs. Dann legte er sich für eine Weile auf die Couch im Wohnzimmer, lauschte zuerst der FM-Radiomusik und dann dem Wetterbericht, welcher leichten Temperaturanstieg und darauffolgenden neuerlichen Kälteeinbruch mit schweren Schneefällen noch für diesen Nachmittag vorhersagte.
Michael, der im Herbst verabsäumt hatte, den Garten zu düngen, fiel jetzt ein, daß dieses Tauwetter ihm wohl die einzige Gelegenheit bot, sein Versäumnis noch während des Winters nachzuholen, und so schlüpfte er in seine Arbeitshosen, zog die alte Jacke über, griff nach den Arbeitshandschuhen, zog die Winterstiefel an, fuhr zum Supermarket und lud dort ein Halbdutzend Leerkartons auf. Er hatte ein Dauerabkommen mit einem Truthahnzüchter und fuhr nun zu dessen Farm hinaus, wo der Eigentümer jedes Jahr nach dem Thanksgiving-und Weihnachtsrummel den Geflügelmist zu einem großen Haufen türmte. Der Dünger war locker und gerade richtig, hatte die Beschaffenheit von Sägemehl und war durchsetzt von weißen Flaumfedern, die in der Gartenerde verschwinden würden wie nichts. Er war bei der herrschenden Temperatur praktisch geruchlos, und all das Gewürm, das die Arbeit im Frühling und Herbst so unleidlich machte, war in der Winterkälte eingegangen. Michael schaufelte den Dünger in die Kartons und achtete darauf, daß der Kombiwagen nicht damit beschmutzt würde. Zu diesem Zweck hatte er den Gepäckraum auch mit alten Zeitungen ausgelegt. Die Luft war warm, die Arbeit tat ihm gut, aber er wußte aus Erfahrung, daß er fünfmal würde fahren müssen, um genug Dünger für seinen Garten zu haben.
Doch schon nach der dritten Fahrt - er trug die Ladung eben in den Garten und leerte sie dort aus - zogen die Wolken auf, es wurde merklich kühler, und er schwitzte nun nicht mehr. Und als er mit der letzten Ladung in die Einfahrt bog, hatte es schon wieder fein und graupelig zu schneien begonnen.
»He! « Max war aus der Schule zurück, trat an den Wagen und betrachtete die Arbeitskleidung seines Vaters. »Was machst du denn da?«
»Gartenarbeit«, sagte Michael, während der Schnee sich ihm an Gewand und Brauen festsetzte. »Willst du mir helfen?«
Sie schleppten die letzten Kartons gemeinsam in den Garten, klopften sie dort aus, und Max ging in den Keller, um die Schaufeln zu holen.
Dann begannen sie, den Dünger gleichmäßig über den Garten zu verstreuen, während die Flocken nun schon größer und dichter aus dem grauen Himmel sanken.
»Das gibt Tomaten so groß wie Kürbisse«, rief Michael, während er mit Schwung die nächste Schaufel aufstreute, so daß ein weiterer Quadratmeter der Schneefläche plötzlich vom Dünger gebräunt war.
»Kürbisse so groß wie aus Tanger«, rief Max und schwang die Schaufel.
»Mais so süß wie das Küssen.« Und schwang die Schaufel.
»Wurmstichige Radieschen! Ein schwarzkrätziger Matsch.« Und schwang die Schaufel.
»Schundleder! « sagte sein Vater. »Der reine Zunder! Schau, mein Daumen ist schon ganz grün.«
»Was, das Zeug frißt sich durch die Handschuhe?« fragte Max. Dabei arbeiteten sie pausenlos weiter, bis all der Dünger aufgebreitet war und Michael sich über den Schaufelstiel lehnte wie der Held jener alten Gewerkschaftscartoons und seinem Sohn bei den letzten paar Schwüngen zusah. Der Bursche hatte einen Haarschnitt dringend nötig, und seine Hände waren aufgesprungen und vom Frost gerötet. Wo hatte er nur seine Handschuhe? Er sah jetzt einem Bauernjungen viel ähnlicher als dem Sohn eines Rabbiners, und Michael dachte ans Frühjahr und wie sie zu zweit alles umstechen und nach der Aussaat wie Kibbuzniks auf die ersten grünen Spitzen warten würden, die durch die gedüngte Erde stießen.
»Weil du vorhin vom Küssen gesprochen hast - brauchst du zu Neujahr den Wagen?«
»Ich glaube nicht. Danke schön.« Max streute die letzte Schaufel und richtete sich seufzend auf.
»Warum nicht?«
»Wir haben nichts mehr verabredet. Dess und ich gehen nicht mehr miteinander.«
Max untersuchte angelegentlich die Risse in seinen Händen. »Dieser ältere Bursche hat sie mir ausgespannt. Er geht schon an die Hochschule.« Max zuckte die Achseln. »Tja, so ist das eben.« Er klopfte die Düngerreste von den Schaufeln. »Das Komische daran ist nur, ich bin gar nicht bös darüber. Dabei habe ich immer geglaubt, ganz blödsinnig in sie verliebt zu sein und nicht darüber hinwegzukommen, falls zwischen uns einmal etwas schiefginge.«
»Und jetzt ist es gar nicht so?«
»Ich glaube nicht. Weißt du, ich bin ja noch nicht einmal siebzehn, und die Sache mit Dess war ... na ja, sagen wir eher platonisch. Aber später, wenn man älter ist, wie weiß man es da?«
»Was meinst du damit, Max?«
»Was ist eigentlich L i e b e, Dad? Wie kannst du wissen, ob du ein Mädchen wirklich liebst?«
Die Frage war echt gestellt, empfand Michael. Sie beschäftigte den Jungen wirklich. »Weißt du, da gibt's keine Gebrauchsanweisung«, sagte er. »Aber wenn's erst soweit ist und du der Frau gegenüberstehst, mit der du dein ganzes weiteres Leben teilen willst, dann fragst du nicht mehr.«
Sie sammelten die leeren Kartons ein und stellten sie zum leichteren Transport ineinander.
»Und für eine andere Neujahrsverabredung ist es schon zu spät?« fragte Michael.
»Ja. Ich habe massenhaft Mädchen angerufen: Roz Coblentz, Betty Lipson, Alice Striar ... Aber die sind alle schon vergeben. Schon seit Wochen.« Er sah den Vater an. »Gestern abend hab ich's noch bei Lisa Patruno versucht, aber auch die ist schon besetzt.«
Oj. Langsam, Sejde.
»Ich glaube, die kenne ich gar nicht«, sagte Michael.
»Die Tochter von Pat Patruno, dem Apotheker. Patrunos Pharmacy, weißt du.«
»Ach so!«
»Bist du jetzt böse?« fragte Max.
»Nicht gerade böse.«
»Was dann?«
»Schau, Max, du bist jetzt ein großer Junge, was noch lang nicht heißt, daß du ein Mann bist. Aber von jetzt bis dorthin gibt es gewisse Entscheidungen, die du ganz allein treffen mußt. Und sie werden um so wichtiger, je älter du wirst. Aber wenn du meinen Rat brauchst - er steht dir jederzeit zur Verfügung. Du wirst nicht immer richtig entscheiden - niemand kann das. Aber es müßte schon sehr dick kommen, damit dein Vater böse auf dich ist.«