»Wie immer dem sei, sie war ohnedies schon verabredet«, sagte Max.
»Du«, sagte Michael, »da gibt es ein Mädchen, Lois heißt sie, aus New York. Derzeit zu Besuch bei Mr. und Mrs. Gerald Mendelsohn. Wenn du magst, kannst du dort anrufen. Sie stehen aber noch nicht im Telephonbuch. «
»Ist sie so, daß man nicht wegschauen muß?«
»Ich habe sie noch nie gesehen. Aber ihre ältere Schwester hätte mir einmal recht gut gefallen.«
Auf dem Weg ins Haus hieb Max seinen Vater plötzlich auf die Schulter, so daß ihm war, als hätte ihn ein Schlachtbeil getroffen und nähme ihm auf Dauer alles Gefühl. »Du bist gar kein alter Narr, wie man ...«
»Danke, das hört man gern.«
»... wie man von einem Rabbiner erwarten müßte, der nur herumsteht und Vogelscheiße in den Schneesturm streut.« Michael ging unter die Brause, danach hatten sie Suppe aus der Dose zum Mittagessen, und dann fragte Max, ob er den Wagen nehmen und zur Bibliothek fahren dürfe. Als der Junge fort war, stellte sich Michael für eine Weile ans Fenster und sah in das Schneetreiben hinaus. Dabei fiel ihm etwas für seine Predigt ein, er setzte sich an die Schreibmaschine und arbeitete es aus. Nachdem er mit der Niederschrift fertig war, ging er in den Abstellraum, holte die Dose Brasso heraus und ging damit nach oben.
Sejde's Bettstatt begann unansehnlich zu werden. Er arbeitete langsam und sorgfältig daran, wusch sich nach dem Auftragen des Putzmittels die Hände und begann dann, das Messinggestell mit weichen Lappen sauberzureiben, wobei er sich daran erfreute, wie blank und warm das Metall wieder zu glänzen begann. Noch war der ganze Kopfteil zu polieren, als er unten die Haustür aufgehen hörte und gleich darauf Schritte auf der Treppe vernahm.
»Wer ist da?« rief er.
»Ja, wer ist da?« sagte sie, während sie hinter ihm ins Zimmer trat.
Und während er sich noch umdrehte, küßte sie ihn schon, hatte ihn gerade noch am Mundwinkel erwischt, und vergrub dann ihr Gesicht an seiner Schulter.
»Am besten, du rufst gleich Dr. Bernstein an«, murmelte sie mit gepreßter Stimme.
»Das hat jetzt Zeit«, sagte er nur. »Mehr Zeit, als es überhaupt gibt.« Sie standen nur da und hielten einander lange Zeit umschlungen.
»Ich war auf der andern Seite des Spiegels«, sagte sie schließlich.
»Ja? Und war's schön dort?«
Sie sah ihm in die Augen. »Ich hab mich in einem Zimmer verschanzt und es mit Whisky und Pillen probiert. Und jeden Tag mit einem anderen Liebhaber.«
»Aber nein. Du nicht.«
»Du hast recht«, sagte sie. »Ich nicht. Ich war nur überall dort, wo ich gelebt habe, bevor du gekommen bist. Ich wollte endlich wissen, was ich eigentlich bin - und wer. «
»Und -jetzt weißt du es?«
»Ich weiß jetzt, daß es für mich außerhalb dieses Hauses nichts Wichtiges mehr gibt. Alles andere ist nur Schall und Rauch.« Aus seiner Miene ersah sie, wie schwer es ihm fiel, ihr die bittere Wahrheit zu sagen. So kam sie ihm zuvor: »Ich weiß es schon. War heute früh in Hartford«, sagte sie.
Er nickte nur und strich ihr über die Wange. »Liebe«, sagte er, und weiter, im stillen, zu seinem Sohn: Das ist sie, genau das, was ich für deine Mutter empfinde, für diese eine Frau.
»Ich weiß«, sagte sie, und er nahm ihre Hand in die seine und blickte dabei in die verzerrte Spiegelung im Messinggestell des Bettes. Unten ging die Tür auf, und sie hörten Rachels Stimme. »Daddy! «
»Wir sind hier heroben, Darling!« rief Leslie.
Er preßte Leslies Hand so fest, als wäre sein Fleisch eins mit dem ihren, und nicht einmal Gott selbst könnte es so ohne weiteres wieder trennen.
Am letzten Morgen des alten Jahres griff Michael aus dem Bett und stellte die Weckuhr ab. Eben war Rachel zu ihm unter die Decke gekrochen und preßte sich nun wärmesuchend an ihn. Und anstatt aufzustehen, drückte er ihren Kopf an seine Schulter und strich mit den Fingern wieder und wieder über die Eiform des Schädels unter dem dichten, schlafwarmen Haar. Dann schlummerten beide von neuem ein.
Als er zum andernmal erwachte, sah er mit Schrecken, daß es schon zehn Uhr vorbei war. Zum erstenmal seit Monaten hatte er die Morgenandacht im Tempel versäumt. Dennoch war kein dringender Anruf aus dem Tempel gekommen, und der Gedanke, daß sie die minje auch ohne ihn zustande gebracht hatten, erleichterte ihn.
Er stand nun auf, ging unter die Brause, rasierte sich und zog dann Jeans und Hemd über. Zum Frühstück nahm er lediglich einen Schluck Juice, wonach er sich, barfuß wie er war, ins Arbeitszimmer begab, um seinem Vater noch vor dem Mittagessen einen langen Brief zu schreiben. »Leslie hat sich so gefreut über diese Nachricht. Wann werden wir die Braut zu Gesicht bekommen? Könnt ihr bald kommen?
Gebt uns rechtzeitig Bescheid, damit wir einen würdigen Empfang vorbereiten können.«
Gleich nach Mittag fuhr er ins Krankenhaus. Wie Eskimos gegen die Kälte vermummt, stapften er und Leslie durch den strahlenden Nachmittag. Sie erstiegen den höchsten Punkt des Krankenhausgeländes, einen bewaldeten, pfadlosen Hügel, so daß sie fortwährend in den harschigen Schnee einbrachen. Als sie endlich oben waren, rang Michael nach Atem, und auch Leslie hatte hektisch gerötete Wangen. Der Schnee blendete in der Sonne, und tief unten erstreckte sich der See, zugefroren und verschneit, aber an manchen Stellen freigepflügt, um den flink durcheinanderschießenden Hockeyspielern das Eislaufen zu ermöglichen. Michael und Leslie setzten sich Hand in Hand in den Schnee, und er hätte den Augenblick gern ums Verweilen gebeten. Aber der Wind wehte ihnen den Pulverschnee in geisterhaften Schleiern ins Gesicht, und der Rücken wurde ihnen kalt und gefühllos, so daß sie nach einer Weile aufstehen und den Gipfel verlassen mußten, hinunter in Richtung auf den Krankenhauskomplex.
Elizabeth Sullivan kochte Kaffee in ihrem Verschlag und lud sie auf einen Schluck zu sich. Sie setzten sich eben zum Trinken, da sah Dan Bernstein auf seiner Morgenvisite herein und streckte den Finger anklagend gegen Leslie aus. »Ich habe eine Überraschung für Sie: wir haben gerade in der Teamsitzung über Sie gesprochen und sind drauf und dran, Sie demnächst hinauszuschmeißen.«
»Und wann?« fragte Michael.
»Oh, noch eine Woche Behandlung, ein paar Tage Erholung, und dann: Good-by, Johnny! « Er klopfte Michael auf die Schulter und begab sich dann auf die Station, gefolgt von Miss Sullivan mit ihrem Karteiwägelchen.
Leslie wollte etwas sagen, brachte aber kein Wort über die Lippen.
So lächelte sie Michael nur zu, hob die Kaffeetasse, er stieß mit ihr an, überlegte sich eine kleine humorvolle Rede, die aber alles Nötige enthalten sollte - und wußte plötzlich, daß es da gar nichts zu reden gab. Statt dessen schluckte er den Kaffee hinunter und verbrannte sich dabei die Zunge.
Am nämlichen Abend fuhr Max mit dem Wagen am Tempel vor und wartete, bis Michael ausgestiegen war.
»Gute Nacht, Dad. Und ein gutes neues Jahr.«
Ohne zu überlegen, lehnte Michael sich über den Sitz und küßte den Jungen auf die Wange, wobei er sein eigenes Rasierwasser zu riechen bekam.
»He, was soll denn das heißen?«
»Ach - es ist das letztemal, weißt du. Ab morgen bist du schon zu groß dafür. Fahr vorsichtig, ja.«
Die Festhalle im Erdgeschoß war voll von Besuchern mit kindischen Papierhütchen auf den Köpfen. Hinter der improvisierten Bar verkauften Gemeindefunktionäre Getränke zugunsten der Hebräischen Schule, während fünf Musiker einen heißen Bossa Nova hinlegten und die Damen in doppelter Reihe ihre Körper im Rhythmus bewegten, die Augen ekstatisch geschlossen, als nähmen sie an einem Stammesritual teil.