»HÖRST DU, ALTER? SIE WIRD HINGEHEN! « Dann knallte sie das Fenster zu und begann zu weinen.
An diesem Abend hielt Michaels sejde seinen Laden lange über die normale Sperrstunde hinaus offen. Als der Vater aus der Fabrik nach Hause kam, führten die Eltern ein langes Gespräch in ihrem Schlafzimmer. Ruth und Michael hörten sie streiten. Schließlich kam der Vater heraus, das rundliche Gesicht verzerrt wie das eines Kindes, das weinen möchte und nicht weinen kann. Er holte Fleisch aus dem Kühlschrank und machte einen Teller für den sejde zurecht. Die Kinder schliefen ein, bevor der Vater heimkehrte.
Ruthie erklärte ihrem Bruder am nächsten Tag, worüber die Eltern gestritten hatten. »Der eklige Alte wird sich hier nicht mehr herumtreiben«, sagte sie.
Er spürte plötzlich einen Druck auf der Brust. »Was meinst du damit?«
fragte er.
»Er geht in ein Haus, wo nur alte Männer und Frauen sind. Mama hat es gesagt.«
»Du lügst.« Er trat sie aufs Schienbein. Sie brüllte, gab ihm eine Ohrfeige und krallte die Nägel in seinen Arm. »Sag nicht, daß ich lüge, du Lausbalg! « Die Tränen standen ihr in den Augen, sie vergönnte ihm jedoch nicht, sie weinen zu sehen. Er aber war verletzt und wußte, daß er gleich zu weinen anfangen würde - so lief er fort und aus dem Haus.
Er lief die Stiegen hinunter, hinaus auf die Straße und um die Ecke zu Rivkinds Laden. Der sejde saß in seinem Schaukelstuhl, aber er las nicht, er tat überhaupt nichts. Michael kletterte auf seine Knie und versteckte das Gesicht im Bart seines Großvaters. Mit jedem Herzschlag des alten Mannes kitzelte eine Bartsträhne das Ohr des Knaben.
»Gehst du weg, sejde?« »Aber nein. Dummheiten.« Sein Atem roch stark nach Whisky. »Wenn du jemals weggehst, geh ich mit dir«, sagte Michael.
Isaac legte seine Hand auf den Kopf des Knaben und begann zu schaukeln, und Michael wußte, daß alles gut werden mußte. Mitten in der Geschichte vom Zollbeamten kam die dicke Mrs. Jacobson in den Laden. Michaels sejde sah zu ihr auf.
»Gehen Sie«, sagte er.
Mrs. Jacobson lächelte höflich, wie über einen Witz, den sie nicht verstand. Sie blieb stehen und wartete.
»Gehen Sie«, sagte der Großvater nochmals. »Ich mag Sie nicht bedienen. Sie haben einen fetten Hintern.«
Mrs. Jacobsons Gesicht schien in Stücke zu gehen vor fassungslosem Staunen. »Was ist los mit Ihnen?« sagte sie. »Sind Sie übergeschnappt?«
»So gehen Sie doch endlich. Und tappen Sie nicht in den Tomaten herum mit Ihren dicken Fingern. Das wollte ich Ihnen schon lange sagen.«
Ähnliche Freundlichkeiten sagte er im Lauf dieses Nachmittags noch einem halben Dutzend von Käufern, die wütend seinen Laden verließen.
Schließlich kam Michaels Vater, als sie gerade bei der Geschichte vom Kauf des ersten Ladens waren. Er stand da und sah die beiden an, und sie sahen ihn an. Michaels Vater war nur mittelgroß, aber sein Körper war wohlproportioniert, und er sorgte mit regelmäßigem Training in der Young Men's Hebrew Association dafür, daß er gut in Form blieb. In seinem Schlafzimmer hatte er einen Satz von Gewichten, und manchmal sah Michael zu, wie er mit einer 25 Pfund-Hantel in jeder Hand Welle um Welle vollführte und wie sein Bizeps dabei schwoll und sich spannte.
Sein dichtes schwarzes Haar war kurz geschnitten und immer sorgfältig gebürstet, und seine Haut war tief gebräunt, sommers von der Sonne und winters von der Bestrahlungslampe. Mit Männern kam er gut aus, aber noch erfolgreicher war er bei der weiblichen Kundschaft. Er war ein gutaussehender Mann mit blauen Augen, die immer zu lachen schienen.
Jetzt aber war nur Ernst in seinen Augen. »Zeit zum Abendessen«, sagte er. »Gehen wir.«
Aber Michael und sein Großvater rührten sich nicht.
»Papa, hast du überhaupt zu Mittag gegessen?« fragte der Vater. Der sejde zog die Stirn in Falten. »Aber natürlich, was glaubst du denn, bin ich ein Kind? Ich könnt noch heut wie ein Fürst in Williamsburg leben, wenn du und dein sauberes Weib nicht eure Nasen hineingesteckt hättet. Aber ihr habt mich ja dort weggeschleppt, und jetzt wollt ihr mich ins Museum stecken.«
Der Vater setzte sich auf eine Orangenkiste. »Papa, ich war heute im Sons of David-Heim. Ein wirklich schönes Haus - ein wirklich jiddisches Haus.«
»Ach, laß mich in Ruh.« »Papa, ich bitt dich.«
»Jetzt hör einmal zu, Abe. Ich werd deiner sauberen Frau aus dem Weg gehen. Soll sie trefe kochen die ganze Woche, ich werd nichts mehr sagen.«
»Mr. Melnick ist auch dort.«
»Reuven Melnick aus Williamsburg?«
»Ja. Er läßt dich grüßen. Er ist sehr gern dort, sagt er. Essen ist wie in den Catskills, sagte er, und jeder Mensch redet jiddisch, und eine schul haben sie im Haus, und an jedem schabess kommt der Rabbi herein und der Kantor.«
Der sejde hob Michael von den Knien und stellte ihn auf den Boden.
»Abe, du willst mich also aus dem Haus haben. Du willst das wirklich?« Er sagte es jiddisch und so leise, daß Michael und dessen Vater ihn kaum verstehen konnten.
Auch der Vater sprach leise. »Papa, du weißt, daß ich es nicht will.
Aber Dorothy will, daß wir allein sind, und sie ist meine Frau.« Er blickte weg.
Der Großvater lachte auf. »Also gut.« Es klang beinah fröhlich. Er nahm einen leeren Weizenflockenkarton, packte seine Kom-mentarbände hinein, seine Pfeifen, sechs Dosen Prince Albert, Schreibpapier und Bleistifte. Dann ging er zum Bohnenfaß, brachte daraus die Whiskyflasche zum Vorschein und legte sie obenauf in den Karton. Dann verließ er Rivkinds Gemischtwarenladen, ohne sich umzublicken.
Am nächsten Morgen brachten ihn Michael und sein Vater zum Alters- und Waisenheim der Sons of David. Im Wagen redete der Vater krampfhaft-angeregt drauflos. »Du wirst sehen, Papa, das Zimmer wird dir gefallen«, sagte er. »Es liegt direkt neben Mr.
Melnicks Zimmer.«
»Red nicht so blöd daher, Abe«, sagte der Alte nur. »Reuven Melnick ist ein altes Waschweib, das redet und redet und redet. Schau lieber, daß ich ein anderes Zimmer kriege.«
Der Vater räusperte sich irritiert. »Ist schon recht, Papa«, sagte er.
»Und wer wird im Geschäft sein?« fragte steinern der Alte. »Ach, mach dir da keine Gedanken. Ich verkauf's und leg dir das Geld auf dein Konto. Du hast dich lang genug geplagt, du hast dir die Ruhe verdient.«
Das Sons of David-Heim war ein langer gelber Rohziegelbau in der llth Avenue. Draußen auf dem Gehsteig standen ein paar Stühle herum, auf denen drei alte Männer und zwei alte Frauen in der Sonne saßen. Sie redeten nicht, sie lasen nicht, sie saßen nur da. Eine der alten Damen lächelte dem Großvater zu, als sie dem Wagen entstiegen. Sie trug einen zimtfarbenen schejtl, eine Perücke, die ihr schlecht auf dem Kopf saß. Ihr Gesicht war über und über verrunzelt.
»Schalom«, sagte sie, als die drei ins Haus gingen. Aber sie erhielt keine Antwort. In der Aufnahmekanzlei nahm ein Mensch namens Mr.
Rabinowitz des Großvaters Finger in beide Hände und hielt sie fest.
»Ich hab schon viel von Ihnen gehört«, sagte er. »Sie werden sehen, es wird Ihnen gefallen bei uns.«
Der Großvater lächelte eigentümlich, während er den Weizenflockenkarton unter den anderen Arm klemmte. Mr.
Rabinowitz warf einen Blick hinein.
»Aber, aber - das geht doch nicht«, sagte er, griff hinein und holte den Whisky heraus. »Das ist gegen die Hausordnung, außer der Doktor hat's Ihnen verschrieben.«
Großvaters Lächeln wurde noch eigener.