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»Du mußt früh genug aufstehen«, flüsterte sie erregt. »Geh jetzt noch ins Bett.«

Mehr schlafend als wachend machte sie kehrt und schlurfte zurück in ihr Schlafzimmer. Er hörte seinen Vater fragen, während die Sprungfedern unter ihrem Gewicht ächzten: »Was ist denn mit ihm los?«

»Dein Sohn ist verrückt. Wirklich ein m'schugener.«

»Warum schläft er denn nicht?«

»Geh, frag ihn.«

Abe tat, wie sie gesagt hatte; barfuß kam er in die Küche, das wirre schwarze Haar fiel ihm in die Stirn. Er trug nur Pyjama-hosen, wie es seine Gewohnheit war - denn er war stolz auf seinen Körper. Michael bemerkte zum erstenmal, daß die krausen Haare auf seiner Brust zu ergrauen begannen.

»Was soll das heißen, zum Teufel?« fragte er. Er setzte sich auf den Küchenstuhl und wühlte mit beiden Händen in seinen Haaren.

»Wie stellst du dir vor, daß du morgen bar-mizwe werden sollst?«

»Ich hab die broche vergessen.«

»Du meinst, du hast die haftara vergessen?«

»Nein, die broche. Wenn mir die broche einfällt, dann kann ich auch die haf tara. Aber ich weiß die erste Zeile der broche nicht mehr.«

»Herr Jesus, Michael, du hast diese verdammte broche schon mit neun Jahren gekonnt.«

»Ja, aber jetzt kann ich sie nicht.«

»Hör zu, du mußt sie nicht auswendig können. Sie steht im Buch.

Du mußt sie nur ablesen.«

Michael wußte, daß sein Vater recht hatte, aber das nützte ihm nichts. »Vielleicht werde ich die Stelle nicht finden«, sagte er verzagt.

»Verlaß dich darauf, es werden mehr alte Männer um dich herumstehen, als dir lieb sein wird. Die werden dir die Stelle schon zeigen.« Seine Stimme wurde scharf.

»Du gehst jetzt ins Bett. Genug von der m'schugass.«

Michael ging zu Bett, aber er lag wach, bis das Dunkel seines Fensters sich mit grauem Licht füllte. Dann schloß er die Augen und schlummerte ein; er glaubte, kaum eine Sekunde geschlafen zu haben, als seine Mutter ihn weckte. Sie betrachtete ihn ängstlich.

»Alles in Ordnung?«

»Ich glaub schon«, sagte er. Er stolperte ins Badezimmer und tauchte sein Gesicht ins kalte Wasser. Er war so müde, daß er kaum wußte, wie er sich anzog, eilig sein Frühstück aß und mit seinen Eltern zur Synagoge kam.

Vor dem Tor küßte ihn seine Mutter zum Abschied und eilte die Stiegen hinauf, zu den Plätzen für die Frauen. Sie sah aus, als hätte sie Angst. Michael ging mit seinem Vater zu einem Platz in der zweiten Reihe. Die Synagoge war voll mit ihren Freunden und Verwandten. Sein Vater hatte nur wenige Angehörige, aber die Mutter kam aus einer großen und weitverzweigten Familie, und anscheinend waren sie alle gekommen. Viele Männer begrüßten sie flüsternd, als sie zu ihren Plätzen gingen. Michael bewegte die Lippen, die Grüße zu erwidern, aber seine Stimme gab keinen Ton.

Er war eingeschlossen in einen Panzer aus Angst, der sich mit seinem Körper bewegte und aus dem es kein Entkommen gab.

Die Zeit schleppte sich dahin. Michael nahm nur verschwommen wahr, daß sein Vater zur bema gerufen worden war, und von ferne hörte er Abes Stimme einen hebräischen Text lesen.

Dann wurde sein eigener Name auf hebräisch aufgerufen - Michael ben Abraham -, und auf steifen, gefühllosen Beinen ging er zum Podium. Er berührte die Thora mit seinem taless und küßte die Fransen, dann starrte er auf die hebräischen Buchstaben auf dem vergilbten Pergament. Wie Schlangen wanden sie sich vor seinen Augen. »Borchu!« zischte einer der alten Männer neben ihm.

Eine zitternde Stimme, die nicht die seine sein konnte, stimmte an: »Borchu es adonai hamvoroch. Borchu -«

»BORUCH.« All die alten Männer korrigierten ihn wie aus einem Mund, grunzend und brummend, und der Chor ihrer Stimmen schlug ihm ins Gesicht wie ein nasses Handtuch. Wie betäubt blickte er auf und sah Verzweiflung in den Augen seines Vaters. Er begann den zweiten Satz nochmals.

»BORUCH adonai hamvoroch l'olom voed. Boruch ato adonai, elauhenu melach hoalom.« Heiser beendete er die broche, akkerte sich blindlings durch den Thora-Text und die folgenden Segenssprüche und begann die haftara. Das ging so fünf Minuten lang, seine dünne, piepsende Stimme klang hohl in der Stille, die, wie er wohl fühlte, gespannt war von der angstvollen Erwartung der Gemeinde, er werde sich jetzt oder im nächsten Augenblick hoffnungslos verlieren in dem komplizierten hebräischen Text oder der altertümlichen Melodie.

Aber er wehrte sich gegen das schmachvolle Ende wie ein verwundeter Matador, der zu geschult und zu diszipliniert ist, als daß er sich gestatten dürfte, unter den Hörnern des Stiers in gnädiges Vergessen zu fallen. Seine Stimme wurde fester. Seine Knie hörten auf zu zittern. Er sang und sang, und die Gläubigen lehnten sich zurück, fast ein wenig enttäuscht, da sie erkannten, daß sie keine Gelegenheit haben würden, sich an seiner Niederlage zu belustigen.

Bald hatte er selbst die bärtigen Kritikaster vergessen, die ihn umringten, hatte sie ebenso vergessen wie die große Zuhörerschaft von Freunden und Blutsverwandten. Gefangen in Melodie und Vers des wilden, herrlichen Hebräisch, wiegte er sich im Rhythmus seines eigenen Singsangs. Er fühlte sich unbeschreiblich glücklich, und als das Ende seiner Passage nahte, tat es ihm leid, und er ließ den letzten Ton so lange ausklingen, als er nur irgend wagte.

Dann blickte er auf. Sein Vater machte ein Gesicht, als wäre er soeben von der First Lady persönlich zum offiziellen Büstenhalter-Erzeuger des Weißen Hauses ernannt worden. Abe ging auf seinen Sohn zu, aber noch ehe er an ihn herangekommen war, fand sich Michael von einer Unzahl von Händen umgeben, die alle danach drängten, seine schweißnasse Hand zu schütteln, während ein Chor von Stimmen ihm masel-tow wünschte.

Er ging mit seinem Vater durch das Hauptschiff der Synagoge, auf seine Mutter zu, die im Hintergrund am Fuß der Balkonstiege wartete. Immer noch war des Händeschüttelns kein Ende, und Michael erhielt Briefumschläge, die Geld enthielten, von Leuten, deren Namen er nicht kannte. Die Mutter küßte ihn unter Tränen, und er legte den Arm um ihre üppigen Schultern. »Schau, wer da ist, Michael«, sagte sie. Aufblickend gewahrte er den Großvater, der sich durch das Schiff der Synagoge den Weg zu ihnen bahnte.

Isaac hatte in der nahe gelegenen Wohnung eines Arbeiters aus Abes Fabrik übernachtet, um den Weg zur Synagoge am Morgen zu Fuß machen zu können und das Gebot nicht zu verletzen, das Fahren am Sabbat verbietet.

Erst viele Jahre später verstand Michael, wie schlau der Großvater seinen Krieg gegen Dorothy geführt hatte und wie siegreich er gewesen war. Seine Strategie war die der Geduld und der Zeit gewesen. Aber nachdem er einmal beschlossen hatte, sich ihrer zu bedienen, war es ihm ohne ein einziges lautes Wort gelungen, seine Schwiegertochter zu besiegen und aus ihrem Haushalt das gesetzestreue jüdische Haus zu machen, das er sich gewünscht hatte.

Freilich war Michael dabei sein Sachwalter.

Sein Triumph über Stash Kwiatkowski hatte Michael einen Auftrieb gegeben, der monatelang anhielt, so daß er den Weg zur Thora-Schule und zurück kaum erwarten konnte. Und als diese Begeisterung nachließ, und er sich nicht mehr wie Jack der Riesenkiller in Person fühlte, war der Lernprozeß längst zu einem gewohnten Rhythmus geworden. Reb Yossle folgte auf Reb Chaim, und Reb Doved folgte auf Reb Yossle, und dann kamen zwei ekstatische Jahre, da Michael jeden Nachmittag im warmen Licht von Miss Sophie Feldmans blauen Augen badete, angeblich der Lehre beflissen, vor allem aber zitternd, sooft sie seinen Namen nannte.