Miss Feldman hatte honigfarbenes Haar und eine zauberhafte, von Sommersprossen gesprenkelte Stupsnase, und sie saß während der Schulstunden mit an den Knöcheln überkreuzten Beinen, während ihre rechte große Zehe träge Kreise beschrieb; Michael verfolgte diese Kreisbewegung mit einer Faszination, die es ihm irgendwie möglich machte, seinen Text aufzusagen, wenn er gerufen wurde.
Als Sophie Feldman dann Mrs. Hyman Horowitz wurde und schließlich hochschwanger durchs Klassenzimmer watschelte, hatte Michael schon keine Zeit mehr, sich den Luxus der Eifersucht zu leisten, denn inzwischen ging er ins dreizehnte Jahr, und bar-mizwe nahte heran. Jeden Nachmittag saß er nun in der Sonderklasse, die der Schulleiter Reb Moishe als Vorbereitung für die bar-mizwe führte, und lernte die haftara. An jedem zweiten Sonntag fuhr er mit der Untergrundbahn nach Brooklyn und sang seinem Großvater die haftara vor, saß in Isaacs Zimmer neben dem alten Mann auf dem Bett, angetan wie er mit Käppchen und taless, während er mit dem Finger den Zeilen im Buch folgte, die er langsam und viel zu überzeugt von seiner eigenen Wichtigkeit sang.
Der Großvater saß mit geschlossenen Augen daneben, Reb Chaim nicht unähnlich, und wenn Michael einen Fehler machte, erwachte er zum Leben und sang das richtige Wort mit altersschwacher Stimme. Nach dieser Übung pflegte Isaac geschickte Fragen nach dem häuslichen Leben zu stellen, und was er zu hören bekam, mußte ihn wohl mit größter Befriedigung erfüllen. Unter dem Einfluß, den die Sons of Jacob-Synagoge auf Michael übte, hatte sich für die Reformbestrebungen in der Familie Kind das Blatt gewendet.
Dorothy Kind war zur Revolutionärin ungeeignet. Als Michael zu fragen begann, wieso es in ihrem Haushalt Fleischsorten und Seetiere zu essen gäbe, die, wie er in der Thora-Schule gelernt hatte, guten Juden verboten sind, nahm seine Mutter dies zum Anlaß, jene Dinge vom Speisezettel zu streichen. Gegen die Vorwürfe ihres Schwiegervaters hatte sie ihr Freidenkertum erbittert verteidigt, aber auf die unschuldige Frage des Sohnes gab sie demütig und mit schlechtem Gewissen nach. Ab nun wurden wieder jeden Freitagabend die Schabbeskerzen angezündet, Milch blieb bei Milch und Fleisch bei Fleisch, und es wurde nichts mehr gemischt.
So kam es, daß Dorothy, als der Großvater langsam durch die überfüllte Synagoge auf sie zukam, ihn mit einem zärtlichen Kuß überraschte. »War Michael nicht großartig?« fragte sie. »Schön hat er die haftara gesagt«, gab er mürrisch zu. Dann küßte er Michael auf die Stirn. Der Gottesdienst war zu Ende, und die Gläubigen begannen sich um sie zu sammeln. Sie ließen die Glückwünsche über sich ergehen, bis auch der allerletzte ihnen die Hand geschüttelt hatte, und begaben sich dann in den Gesellschaftsraum, wo die Tische sich bogen unter der Last von gehackter Leber und sauren Heringen, von kuglen und geschmuggelten Scotch- oder Korn-Flaschen.
Ehe sie sich zu den Gästen gesellten, nahm der Großvater Michael den Knabengebetsmantel ab, legte ihm seinen eigenen um die Schultern und drapierte die seidenen Falten. Michael kannte diesen taless: es war Isaacs Feiertags-taless, den er kurz nach seiner Ankunft in Amerika gekauft hatte und nur bei besonders festlichen Anlässen trug. Jährlich einmal wurde er sorgfältig gereinigt und nach jedem Tragen wieder eingepackt und weggelegt. Die Seide war ein wenig vergilbt, aber gut erhalten, und die blauen Nähte waren noch immer fest und farbstark.
»Aber Papa, dein Feiertags-taless!« protestierte die Mutter.
»Er wird ihn in Ehren halten«, sagte der sejde. »Wie a schejner jid. «
An einem klaren kalten Samstagmorgen seines dreizehnten Winters begann Michaels berufliche Laufbahn. Er fuhr mit seinem Vater nach Manhattan, nachdem die beiden das Haus verlassen hatten, noch ehe die anderen Familienmitglieder aus dem Bett waren. Sie frühstückten Orangenjuice, Rahmkäse und knusprige Semmeln, saßen behaglich vor ihren dicken Kaffeetassen, verließen endlich die Cafeteria und gingen dann über die Straße in das alte Gebäude, in dessen viertem Stockwerk Kinds Foundations untergebracht waren.
Die Träume, um derentwillen Abe mit dem Firmennamen auch seinen eigenen geändert hatte, waren nie in Erfüllung gegangen. Das Geheimnis, welches aus einem gutgehenden Geschäft eine Goldgrube macht, war Abraham Kind verschlossen geblieben. Aber wenn auch das Unternehmen nicht gerade emporgeschossen war, so setzte es sie doch in den Stand, recht gut zu leben.
Der Betrieb bestand aus sechzehn an den geölten Fußboden ge-schraubten Maschinen, die umgeben waren von Holztischen, auf denen das Zubehör an Stoffen, Brustschalen, Fischbeinstangen, Gummibändern und all das andere Kleinzeug gestapelt war, das hier zu Miedern, Hüftgürteln und Büstenhaltern verarbeitet wurde. Die meisten von Abes Angestellten waren Fachkräfte, die schon seit vielen Jahren bei ihm arbeiteten. Obwohl Michael sie fast alle kannte, führte ihn sein Vater von Maschine zu Maschine und stellte ihn feierlich vor.
Ein weißhaariger Zuschneider, er hieß Sam Katz, nahm die zer-knautschte Zigarre aus dem Mund und klopfte sich auf den dicken Bauch.
»Ich bin der Betriebsrat«, sagte er. »Möchtest du, daß ich das Gewerkschaftliche mit dir oder mit Vater bespreche, Kleiner?« Abe grinste. »Ganew. Laß den Jungen aus mit deiner Gewerk-schaftspropaganda. Wie ich dich kenne, wirst du ihn mir noch in den Ausschuß aufnehmen.«
»Keine schlechte Idee. Danke, ich glaube, das werde ich tun! « Als sie nach vorn ins Büro gingen, grinste der Vater nicht mehr. »Der verdient mehr als ich«, sagte er.
Das Büro war durch eine Wand vom Maschinensaal getrennt. Das Empfangszimmer war teppichbelegt, dezent beleuchtet, und seine teuren Möbel stammten noch aus der Zeit, da Abe sich großartige Illusionen hinsichtlich der Zukunft gemacht hatte. Jetzt, bei Michaels Arbeitsantritt, war vieles schon schäbig geworden, wenngleich es noch immer attraktiv wirkte. Ein Glasverschlag in der Ecke schirmte die beiden Schreibtische ab, deren einer für Vater, deren anderer für Carla Salva, die Buchhalterin, bestimmt war.
Sie saß hinter ihren Büchern, lackierte sich die Nägel und wünschte ihnen lächelnd guten Morgen. Sie hatte strahlend weiße Zähne und einen von Natur aus schmallippigen Mund, den Max Factor zu roter Üppigkeit gewandelt hatte. Gleich neben der Nase, deren Flügel ständig vibrierten, hatte sie ein großes braunes Muttermal. Sie stammte aus Puerto Rico und hatte schmale Hüften, einen üppigen Busen und einen zarten Teint. »Ist Post gekommen?« fragte Abe. Sie zeigte mit frischlackiertem karminrotem Fingernagel, der an ein blutiges Stilett gemahnte, auf einen Stoß auf ihrem Schreibtisch. Der Vater packte die Briefschaften zusammen, legte sie auf seinen Schreibtisch und ordnete sie nach Aufträgen und Rechnungen.
Nachdem Michael ein paar Minuten herumgestanden war, räusperte er sich. »Und was soll ich jetzt tun?« fragte er.
Abe blickte auf. Er hatte Michaels Gegenwart gänzlich vergessen.
»Oh«, sagte er. Er führte ihn zu einem engen Verschlag und zeigte auf den verbeulten Hoover-Staubsauger. »Saug die Teppiche ab.«
Sie hatten es bitter nötig. Als er mit den Teppichen fertig war, goß er die beiden großen Zimmerpflanzen und polierte dann das Metallgestell des Aschenbechers. Es war soeben zehn Uhr dreißig, und der erste Kunde trat ein. Als Abe seiner ansichtig wurde, kam er hinter dem Glasverschlag hervor.
»Oh, Mr. Levinson«, sagte er. Es gab ein herzliches Händeschütteln. »Wie geht's immer in Boston?«