Michael drehte das Gesicht zur Wand.
Im Apartment gegenüber wohnte Miriam Steinmetz. An einem Abend im Frühling während seines letzten Studienjahres an der High School of Science lagen er und Mimi nebeneinander auf dem dicken Teppich des Steinmetzschen Wohnzimmers und gingen die Stellenangebote für Ferialpraktikanten in The New York Times durch.
»Wär's nicht nett, wenn wir etwas im selben Ort finden könnten?«
fragte Mimi.
»Und ob! «
In Wirklichkeit graute ihm schon vor dem bloßen Gedanken daran.
Wohl hatte er in diesem Sommer einen Ortswechsel nötig, aber noch wichtiger war es, auch die Leute zu wechseln, neue Gesichter zu sehen, fremde, die er nicht kannte. Mimis Gesicht, so hübsch und lebhaft es auch war, gehörte nicht dazu. Die Familie Steinmetz hatte schon im Apartment 3-D gewohnt, als Michaels Familie in 3-C
eingezogen war, und Mimi hatte den Nachbarssohn im großen und ganzen ignoriert, bis er mit sechzehn einer Einladung folgte, der Mu Sigma Fraternity seiner Schule beizutreten. Sie war Jota-Phi-Mitglied, und die Vorteile der Verbindung waren so offensichtlich, daß sie sich mit ihm anfreundete. Sie lud ihn zu den Tanzabenden ihrer Sorority ein, und er führte sie zu den Tanzabenden seiner Fraternity, und nachher kam es gelegentlich zu fast asexuell zufälligen Zärtlichkeiten.
Leider kannte er Mimi besser als seine Schwester Ruthie - und das war für ihre Beziehung nicht von Vorteil. Er hatte Mimi mit frischgewaschenem Haar gesehen - sie wirkte wie eine gebadete Maus
-, mit dick eingecremtem Gesicht in erbittertem Kampf gegen Akne, mit einem Fuß in dampfendem Wasser, um eine Eiterung an der Zehe zu kurieren. Es war ihm unmöglich, eine Kleopatra in ihr zu sehen und sich als ihr Mark Anton zu fühlen. Nicht der leiseste Hauch von Geheimnis war geblieben, um solche Phantasie zu nähren.
»Das klingt ganz gut«, sagte sie.
Es war die Anzeige eines Hotels in den Catskills, das Küchen-hilfspersonal suchte. Unmittelbar darunter gab es ein Inserat, das Michael mehr interessierte: ein Etablissement, das sich The Sands nannte - in der Nähe von Falmouth, Massachusetts -, suchte gleichfalls Küchenhelfer.
»Schreiben wir beide dorthin, magst du?« fragte Mimi. »Wäre doch nett, den Sommer in den Catskills zu verbringen.« »Okay«, sagte er.
»Schreib dir die Anzeigennummer auf, und ich nehme die Zeitung mit.«
Sie kritzelte die Chiffre auf einen Block beim Telephon, dann küßte sie Michael flüchtig auf den Mund. »Mir hat er Spaß gemacht, der Film.«
Michael fühlte sich aus Gründen der Galanterie verpflichtet, die Initiative zu ergreifen. Er versuchte, sie mit so viel Hingabe zu küssen, wie sie Clark Gable soeben im Film an Claudette Colbert demonstriert hatte. Unwillkürlich verirrte sich seine Hand in ihren Pullover. Sie leistete keinen Widerstand. Ihre Brüste waren wie kleine Kopfkissen, die sich eines Tages zu großen Kopfkissen auswachsen würden.
»Die Szene in dem Motel, wo sie die Decke zwischen den Betten aufgehängt haben, die war großartig! « flüsterte sie ihm ins Ohr.
»Würdest du mit einem Jungen schlafen, wenn du ihn liebst?«
Einen Augenblick lang dachte sie schweigend nach.
»Meinst du bei ihm oder mit ihm schlafen?«
»Mit ihm schlafen.«
»Ich glaube, es wäre sehr dumm. Sicher nicht, bevor ich verlobt wäre... Und auch dann - warum nicht lieber warten?«
Zwei Minuten später öffnete er die Tür zur Wohnung seiner Eltern.
Leise, um die Familie nicht zu wecken, holte er Feder und Briefpapier heraus und schrieb eine Bewerbung an The Sands. Ein Wagen erwartete ihn an der Busstation in Falmouth. Der Fahrer war ein wortkarger weißhaariger Mann, der sich Jim Ducketts nannte.
»Hab dich schon beim andern Bus gesucht«, sagte er vorwurfsvoll.
The Sands war ein Strandhotel, ein weitläufiges weißes Gebäude, umgeben von breiten Terrassen mit Blick auf Park und Privatstrand.
Im hintersten Winkel des Hotelgeländes stand die Schlafbaracke für das Aushilfspersonal. Ducketts wies auf ein altersschwaches eisernes Feldbett.
»Deines«, sagte er und ging grußlos hinaus.
Die Baracke bestand aus rohen Brettern, die vernagelt und mit Teerpappe überzogen waren. Michaels Feldbett stand in einer Ecke, in der es außerdem noch ein riesiges Spinnennetz gab; in seiner Mitte saß, wie ein schimmernder Edelstein, eine große blau und orange gefleckte Spinne mit haarigen Beinen.
Michael bekam eine Gänsehaut. Er blickte um sich nach einem Gegenstand, mit dem er das Ungeheuer hätte erschlagen können, aber er fand nichts Geeignetes.
Die Spinne rührte sich nicht. »Gut«, sagte er zu ihr. »Tu mir nichts, dann tu ich dir auch nichts.«
»Mensch, mit wem redest du denn?«
Michael drehte sich um und sah den anderen mit dummem Grinsen an. Der Bursche stand in der Tür und musterte den Neuen mißtrauisch. Sein blondes Haar war auf Bürste geschnitten und seine Haut fast so braun wie die von Abe Kind. Er trug Jeans und Tennisschuhe, und ein Trikothemd mit dem Aufdruck YALE in großen blauen Lettern quer über die Brust.
»Mir der Spinne«, sagte Michael.
Der andere verstand nicht recht, aber Michael war der Meinung, die Geschichte würde nur noch lächerlicher klingen, je mehr er zu erklären versuchte. Der Bursche gehörte zu den Leuten, die einem die Hand schütteln, und er tat es ausführlich, während er sich vorstellte. »AI Jenkins. Hast du was zu essen?« Michael hatte einen Schokoladeriegel aufgespart, den schenkte er Al in einem Anfall von Kameradschaftsgeist. Al ließ sich auf Michaels Matratze fallen und stopfte die Hälfte der Schokolade in den Mund, nachdem er die Verpackung unter das Feldbett geschmissen hatte.
»Gehst du noch in die Schule?« fragte er.
» Im Herbst fange ich an der Columbia an. Und du, wieviel Semester Yale hast du schon?«
Al räusperte sich. »Ich komm doch gar nicht von Yale. Ich geh an die Northeastern, Boston.«
»Warum trägst du dann das Yale-Hemd?« »Das ist Ivy-League-Tarnung. Für die Weiber.«
»Für die Weiber?«
»Ja, für die studierten Gänse, die lieben Kolleginnen. Du arbeitest wohl zum erstenmal in einem Urlaubsort?«
Michael mußte das zugeben.
»Du wirst noch viel lernen müssen, mein Bester.« Er verzehrte den Rest der Schokolade, dann, plötzlich sich erinnernd, setzte er sich auf Michaels Bett auf und fragte:
»Hast du wirklich mit der verdammten Spinne geredet?«
Die Küchenhelfer mußten morgens um 5 Uhr 3o aufstehen. In der Baracke schliefen zwanzig Mann. Die Busboys und Strandboys, deren Dienst erst viel später begann, schimpften und fluchten weidlich über dieses vorzeitige Wecken, und nach ein paar Tagen taten sich die Küchenhelfer keinen Zwang mehr an und fluchten ihrerseits.
Der Chef war ein großer, magerer Mann, der Mister Bousquet genannt wurde. Seinen Vornamen bekam Michael nie zu hören, und es fiel ihm auch nicht ein, danach zu fragen. Mister Bousquet hatte ein längliches Gesicht mit verschleierten Augen und starren Zügen, seine einzige Beschäftigung war es, zu kosten und mit teilnahmslos monotoner Stimme sparsame Anweisungen zu geben.
Am ersten Morgen wurden sie in der Küche vom Personalchef des Hotels in Empfang genommen. Michael wurde einem Kore-
aner undefinierbaren Alters weitergereicht, der sich als Bobby Lee vorstellte.
»Ich bin Küchenmeister«, sagte er. »Du bist Küchenboy.« Auf dem Tisch standen drei Kisten voll Orangen. Bobby Lee reichte Michael ein Brecheisen und ein Messer. Er öffnete die Kisten und halbierte die Orangen, bis drei große irdene Bottiche voll waren.
Zu seiner Erleichterung stellte Michael fest, daß die Saftpresse automatisch war. Er hielt eine Orangenhälfte an den rotierenden Bolzen, bis nichts mehr drinnen war als weiße Haut, dann warf er die Schale in einen Korb und griff nach der nächsten Orangenhälfte. Nach einer Stunde preßte er noch immer Orangen aus. Seine Armmuskeln waren verkrampft und seine Finger so steif, daß er glaubte, er werde diese Handhaltung nie mehr loswerden: eine Geste, als wollte er mit der Rechten jedem Weib an die Brust greifen, das dumm genug wäre, ihm nahe zu kommen. Als der Orangensaft erledigt war, gab es Melonen zu schneiden und Grapefruits zu teilen, Dosen voll Kadota-Feigen zu öffnen und Servierwagen mit Eiswürfeln, Juice und Früchten zu bestücken. Als um halb acht die Köche erschienen, schnitten Bobby und Michael Gemüse für das Mittagessen.