Sie sagte es so leise, daß er sie kaum verstehen konnte. Sie zitterte derart, daß er den Wunsch fühlte, sie still in den Armen zu halten, bis dieses schluchzende Zittern aufhörte - er schämte sich ein wenig und hatte Angst. Er bettete ihr Gesicht an seine Schulter.
»Ist das dein Ernst, Ellen?«
»Ich möchte, daß du es mir sagst. Alles. Daß du mir ganz genau sagst, wie es sein wird. Laß nichts aus. Dann will ich darüber nachdenken, jeden Augenblick von jetzt bis morgen. Dann werde ich soweit sein.«
Er stöhnte. »Ellie.«
»Sag es mir«, bat sie. »Bitte, sag es mir.«
So lagen sie beieinander, nackt in der Dunkelheit, und ihre Lippen berührten seine Schulter, und seine Hand streichelte vorsichtig über die schöne Senke ihres Rückens, die relativ am wenigsten erregende Stelle für eine Berührung, die er finden konnte. Er schloß die Augen und begann zu reden. Er redete lange. Als er zu Ende war, lagen sie noch eine Weile reglos.
Dann küßte sie ihn auf die Wange, hob ihren Badeanzug auf und lief davon.
Er blieb liegen, noch lange nachdem das Zischen der Dusche verstummt war. Dann holte er die Weinflasche aus der Tasche und watete in die Brandung hinaus. Der Sherry schmeckte nach Kork.
Er hatte den Wunsch, eine broche zu sagen, aber er fürchtete, das könnte ein Sakrileg sein. Die warme Flut spülte um sein nacktes Geschlecht, und er fühlte sich sehr heidnisch. Er tat einen langen Zug aus der Flasche und goß dann ein wenig Wein in die See: ein Trankopfer an die Götter.
Sie hatte recht gehabt: der Gedanke an das, was in der kommenden Nacht geschehen sollte, war quälend und doch zugleich überaus lustvoll. Michael befand sich in einem Zustand ekstatischer Unruhe, während er am Morgen im Anrichteraum darauf wartete, einen ersten Blick auf Ellen zu erhaschen.
Wie mochte sie auf seinen kleinen Aufklärungsvortrag reagiert haben? Hatte er sie abgestoßen, ihre Angst noch gesteigert? Sobald er ihrer ansichtig wurde, wußte er, daß alles in Ordnung war. Sie kam eilig herein, um ein Tablett mit Orangenjuice zu holen, und stand nur da und sah Michael an. Ihr Blick war sehr sanft und sehr warm, und sie schenkte ihm ein kleines verschwörerisches Lächeln, ehe sie mit ihrem Tablett davonlief.
Plötzlich bemerkte er, daß die Avocados, die er schnitt, voll Blut waren.
Dann wurde alles wirr und verschwommen. Er hatte sich in den linken Zeigefinger geschnitten. Es tat nicht sehr weh, aber er konnte kein Blut sehen, nicht einmal das von anderen Leuten. Er spürte, wie er erbleichte.
»Ist gleich in Ordnung«, sagte Bobby Lee. Er hielt Michaels Hand zuerst unter den Wasserhahn, dann in eine Schüssel voll Peroxyd, bis sich über dem Schnitt ein Schaum von winzigen Blasen bildete.
Dann läutete das Küchentelephon, und gleich darauf erschien Mr. Bousquets Kopf in der Tür.
»Was ist los?« fragte der Chef mit einem Blick auf das Blutbad.
»Nur ein Schnitt. Rein wie ein Kinderpopo. Fertig zum Verbinden«, sagte Bobby Lee.
»Ferngespräch für Sie, Mr. Kind«, sagte Mr. Bousquet höflich.
Damals war ein Ferngespräch für Michael unter allen Umständen eine Sache von größter Wichtigkeit. Er sprang auf und ging schnell zum Telephon, eine Spur von hellen Blutstropfen hinter sich lassend und gefolgt von Bobby Lee, der irgend etwas Unverständliches sagte; vermutlich fluchte er auf koreanisch. »Hallo?«
»Hallo, Michael?« »Wer spricht denn?« »Michael, ich bin's, Papa.«
Bobby Lee schob eine Schüssel unter Michaels Hand und ging weg.
»Was ist los?« sagte Michael ins Telephon.
»Wie geht's dir, Michael?« »Gut. Ist etwas geschehen?«
»Wir möchten, daß du nach Hause kommst.« »Warum?«
»Michael, ich glaube, du wirst hier gebraucht werden.«
Er hielt den Hörer umklammert und starrte in die Sprechmuschel.
»Hör zu, Dad, jetzt sag schon endlich, was los ist.«
»Es ist - wegen Großvater. Er hat sich die Hüfte gebrochen. Er ist gefallen, im Heim.«
»In welchem Spital liegt er?«
»Er ist im Altersheim, auf der Krankenstation. Sie haben dort alles, sogar einen Operationssaal. Ich habe einen großen Spezialisten zugezogen. Er hat den Bruch genagelt - ein Nagel, der die zwei Knochen zusammenhält.«
Bobby Lee kam mit Jod und Verbandzeug zurück.
»Nun, das ist keine gute Nachricht - aber es schaut doch nicht allzu ernst aus.« Michael wußte, daß es ernst war - sonst hätte der Vater nicht angerufen -, aber eine alles überwältigende Selbstsucht hatte von ihm Besitz ergriffen. »Ich kann heute nicht kommen, aber ich kann morgen den ersten Bus nehmen.« »Heute«, sagte sein Vater entschieden.
»Es gibt keinen Bus«, sagte Michael. Später erst spürte er, mit der Sorge um den Großvater, auch Scham und ein Gefühl von Schuld.
»Nimm einen Mietwagen, ein Taxi, irgendwas. Er verlangt nach dir.«
»Wie schlecht steht es wirklich um ihn?«
Bobby Lee hielt die Schüssel unter seine Hand und behandelte den Schnitt mit Jod.
»Er hat eine Lungenentzündung vom langen Liegen. Und er ist siebenundachtzig. So alte Leute kriegen leicht Wasser in die Lunge.«
Fast im selben Augenblick fühlte Michael das scharfe Brennen des Jods auf der offenen Wunde und das schärfere der Gewissensbisse, und er atmete tief und so schwer, daß es sein Vater in New York hörte.
Ein seltsamer Ton aus dem Hörer gab ihm Antwort, und im selben Augenblick wußte Michael, daß er diesen Ton nie zuvor gehört hatte: dieses rauhe, grunzende Geräusch war das Weinen seines Vaters.
Es dämmerte schon über Brooklyn, als Michael aus dem Taxi sprang und die gelben Ziegelstufen zum Waisen- und Altersheim der Sons of David hinauflief. Eine Schwester führte ihn durch die mit glänzendem braunem Linoleum belegten Gänge zur Krankenstation. In einem kleinen Einzelzimmer saß sein Vater neben dem Bett des Alten. Die Jalousien waren ganz her-untergezogen, und nur ein kleines Nachtlicht leuchtete in der Finsternis. Ober dem Bett war ein Sauerstoffzelt aufgebaut. Durch seine Plastikfenster sah Michael das verschattete Gesicht und den weißen Bart seines sejde.
Der Vater sah zu ihm auf. »Nu, Michael?« Abe war unrasiert und hatte gerötete Augen, aber er schien völlig gefaßt.
»Es tut mir leid, Dad.«
»Leid? Es tut uns allen leid.« Er seufzte tief. »Das Leben ist ein cholem, ein Traum. Es ist vorbei, bevor du's noch richtig bemerkst.
»Wie geht's ihm?«
»Er liegt im Sterben.« Abe sprach mit normaler Lautstärke, und die Worte dröhnten wie ein unerbittlicher Urteilsspruch. Erschrocken sah Michael zum Bett hinüber.
»Er wird dich hören«, flüsterte er.
»Er hört nichts. Er hört nichts und weiß nichts mehr.« Sein Vater sagte es vorwurfsvoll und starrte ihn mit seinen geröteten Augen an.
Michael trat an das Bett und preßte sein Gesicht an das Plastikfenster. Die Wangen des sejde waren eingefallen und die Haare in seinen Nasenlöchern verwildert. Die Augen waren blicklos, die Lippen trocken und aufgesprungen; sie bewegten sich, aber Michael konnte die Worte nicht entziffern, die sie zu bilden versuchten.
»Will er uns nicht etwas sagen?«
Sein Vater machte eine müde verneinende Geste. »Er redet nur wirr vor sich hin. Manchmal glaubt er, er ist ein kleiner Junge. Manchmal spricht er mit Leuten, von denen ich nie gehört hab. Zumeist schläft er - und der Schlaf wird länger und längen«
»Gestern hat er oft nach dir gerufen«, fügte Abe nach einem kurzen Schweigen hinzu. »Nach mir hat er nicht gerufen, kein einziges Mal.«
Darüber dachten sie beide nach und schwiegen noch, als die Mutter, mit ihren hohen Absätzen klappernd, vom Abendessen kam. »Hast du was gegessen?« fragte sie und küßte Michael. »Gleich um die Ecke ist ein gutes Delikatessengeschäft. Komm, ich geh mit dir. Die haben eine ordentliche Suppe.«