»Ich habe gegessen«, log er. »Erst vor kurzem.«
Sie redeten ein wenig, aber es gab eigentlich nichts zu sagen, nichts, was so wichtig gewesen wäre wie der alte Mann im Bett.
Beim Fenster stand noch ein zweiter Stuhl, und die Mutter setzte sich, und Michael blieb stehen, von einem Fuß auf den andern tretend. Der Vater begann mit den Fingergelenken zu knacken.
Erst die eine Hand. Pop.
Pop. Pop. Pop. Dann die andere.
Pop.
Pop. Pop. Pop. Nur der Daumen gab keinen Laut, wie heftig sich Abe auch bemühte.
»Oi, Abe«, sagte Michaels Mutter irritiert. Sie betrachtete die Hände ihres Sohnes und bemerkte jetzt erst mit Erschrecken seinen verbundenen Finger. »Was hast du dir denn gemacht?«
»Gar nichts. Nur ein Schnitt.«
Aber sie bestand darauf, die Verletzung zu sehen, und quälte ihn dann so lange, bis er gehorsam mit ihr zu Dr. Benjamin Salz hinüberging. Der Arzt, ein Mann in mittleren Jahren mit beginnender Glatze und englischem Schnurrbart, lag hemdärmelig auf der Couch in seinem Büro und blätterte in einer zerlesenen Esquire-Nummer.
Verdrossen stand er auf, nachdem Dorothy ihr Anliegen vorgebracht hatte, warf einen gleichgültigen Blick auf Michaels Finger und erledigte die Angelegenheit mit zwei sauberen Injektionen. Der Schmerz, der schon auf ein erträgliches, beinahe gewohntes Maß abgeflaut war, erwachte daraufhin mit neuer Heftigkeit.
Der Arzt blickte sehnsüchtig auf den Esquire, während Dorothy ihn zuerst über Michael und dann über den Großvater ausfragte. Michael solle den Finger in heißer Bittersalzlösung baden, sagte er. Und was Mr. Rivkind betraf: er wisse nicht, wie lange es dauern werde. »Er ist zäh. Alte Leute von seinem Schlag brauchen manchmal sehr lang.«
Als sie ins Krankenzimmer zurückkamen, war der Vater eingeschlafen; sein Mund war geöffnet, das Gesicht grau. Eine Stunde später bat Michael seine Mutter, ein Taxi zu nehmen und nach Hause zu fahren; er konnte sie dazu nur durch die Versicherung bewegen, daß er bleiben wolle und ihren Sessel brauche. Um halb elf ging sie weg, und Michael schob den Sessel neben das Bett des alten Mannes, setzte sich und sah ihn an. In seinem Finger pochte ein unablässiger Schmerz, der Vater schnarchte, der Sauerstoff zischte leise, und in den Lungen des sejde stieg leise glucksend das Wasser, das ihn unendlich langsam von innen her ertränkte.
Um Mitternacht - er war ein wenig eingedöst - weckte ihn eine schwache Stimme, die ihn auf jiddisch beim Namen rief: »Michele?
Michele?« Und nochmals: »Michele?«
Er wußte, daß Isaac nach dem kleinen Michele Rivkind rief, und er wußte auch, mehr schlafend als wachend, daß er Michael Kind war und nicht antworten konnte. Schließlich, mit einem Ruck sich ermunternd, beugte er sich vor und schaute durch das Plastikfenster.
»Sejde?« sagte er.
Isaacs Augen verdrehten sich in ihren Höhlen. Stirbt er, dachte Michael, stirbt er jetzt, mit keinem anderen Zeugen als mir? Er dachte daran, seinen Vater zu wecken oder den Arzt zu holen, aber statt dessen öffnete er den Reißverschluß des Sauerstoffzelts, schob Kopf und Schultern durch die Öffnung und ergriff die Hand seines Großvaters. Sie war weich und warm, aber so leicht und trocken wie Reispapier.
»Hello, sejde.«
»Michele«, flüsterte er, »ich schtarb.« Seine Augen waren trüb. Er sagte, er wisse, daß er sterben müsse. Wieviel von den Gesprächen im Krankenzimmer hatte er gehört und verstanden? Michael wurde wütend auf seinen schnarchenden Vater, der sich in schuldbewußtem Kummer so selbstsüchtig sicher in der Lüge eingenistet hatte, der Alte sei schon tot, ein Leichnam, der nichts mehr hören konnte von den Worten der Lebendigen.
Hinter der Trübe von Isaacs Augen flackerte etwas, ein Licht - was war es nur? Plötzlich wußte er mit großer Sicherheit, was es war: Angst. Sein Großvater fürchtete sich. Obwohl er ein Leben lang Gott gesucht hatte, war er jetzt, da er am Rand stand, voll des Schreckens. Michaels Griff schloß sich fester um die Hand des Großvaters, bis er die Knochen durch die dünne Haut fühlte, spröde wie alte Fischgräten, und er lockerte seinen Griff wieder, aus Angst, sie zu zerbrechen.
»Hab keine Angst, sejde«, sagte er auf jiddisch. »Ich bin bei dir. Ich laß dich nie wieder allein.«
Der Alte hatte die Augen schon geschlossen, sein Mund bewegte sich wie der eines Kindes. »Ich laß dich nie wieder allein«, wiederholte Michael und wußte, während er es sagte, daß die Worte die langen Jahre nicht auslöschen konnten, in denen der alte Mann allein die langen, mit glänzendem braunem Linoleum belegten Gänge auf und ab gegangen war, mit der Whiskyflasche als einzigem Trost und Freund.
Michael hielt die Hand des Alten, während dieser halluzinierte und zu Menschen sprach, die irgendwann durch sein Leben gegangen waren und eine Spur in seiner Erinnerung gelassen hatten. Manchmal weinte er auch, und Michael wischte die Tränen nicht von den runzligen Wangen; ihm war, als würde er damit in die Intimität des alten Mannes eindringen. Der Großvater erlebte nochmals den Streit mit Dorothy, in dessen Folge er das Haus des Sohnes verlassen hatte.
Er tobte und wütete über Michaels Schwester Ruthie und einen kleinen schkotz, der Joey Morello hieß. Plötzlich preßte er die Finger seines Enkels mit aller Kraft, öffnete die Augen und starrte Michael an. »Hab Söhne, Michele«, sagte er. »Viele jiddische Söhne.« Er schloß die Augen wieder, und minutenlang schien er friedlich zu schlafen, ruhig atmend und mit geröteten Wangen.
Dann öffnete er die Augen weit und unternahm einen wütenden Versuch, aus dem Bett zu kommen. Er wollte schreien, aber seine Kraft reichte nicht aus; flüsternd nur brachte er die Worte heraus:
»Keine schiksse! Keine schiksse!« Seine Finger krallten sich in Michaels Hand, dann fielen die Lider über die Augen, und das Gesicht verzog sich zu einer beinahe komischen Grimasse. Das Blut strömte stärker in seine Wangen, grauschwarz schimmernd unter der durchsichtigen Haut. Dann fiel er schwer zurück und atmete nicht mehr.
Michael löste seine Hand langsam aus der Umklammerung des sejde und kam aus dem Sauerstoffzelt hervor. Zitternd und seinen verbundenen Finger reibend, stand er inmitten des Zimmers. Dann trat er zu seinem Vater, der noch immer, den Kopf an die Wand gelehnt, vor sich hin schnarchte. Er sah so wehrlos aus in seinem Schlaf. Zum erstenmal bemerkte Michael, wie ähnlich Abe dem sejde wurde, mit seiner im Alter schärfer gewordenen Nase und fast kahlem Schädel; nach der schiwe- Woche, in der er sich nicht rasieren durfte, würde er einen Bart haben.
Behutsam berührte Michael die Schulter seines Vaters.
Die Leichenfeier begann im Sons of David-Heim mit der Ansprache eines ältlichen, asthmatischen orthodoxen Rabbiners und setzte sich mit einer langen Wagenauffahrt zu dem von Menschen überfüllten Friedhof auf Long Island fort. Viele der Heiminsassen gaben dem Toten Geleit. Auf der Fahrt in dem Mietwagen, der nach Blumenspenden roch, zwischen Vater und Mutter sitzend und die wechselnde Straßenszenerie betrach-tend, fragte sich Michael, wie oft sein Großvater diese Fahrt wohl gemacht hatte, um von Freunden Abschied zu nehmen. Isaac wurde, wie es sich für einen frommen Juden geziemt, in einem schlichten Holzsarg begraben; ein neues Gebetbuch mit Elfenbeinschließen und eine Handvoll Erde aus Erez Jissro'ejl, dem Gelobten Land, hatten sie ihm mitgegeben. Michael hätte ihn am liebsten mit seinem alten ssider begraben, aus dem er so viele Jahre lang gebetet hatte, und er hätte gern noch einen Sack kandierten Ingwer und eine Flasche Schnaps dazugelegt. Als der Rabbiner die erste Schaufel voll Erde ins Grab warf und die Steine auf den Sargdeckel polterten, wankten Abe die Knie. Michael und die Mutter mußten ihn stützen, während der Rabbiner das schwarze Band an seinem Rockaufschlag durchschnitt.