»Geduld haben. Sie können Ihre Frau jetzt nicht erreichen. Sie können nur warten, bis Ihre Frau Sie zu erreichen versucht. Wenn es so weit ist, dann ist es der erste Schritt zur Besserung.« »Danke, Dan.«
Der Arzt erhob sich, und Michael reichte ihm die Hand. »Kommen Sie doch einmal in den Tempel, an einem Freitagabend. Vielleicht wirkt mein schabess-Gottesdienst ein wenig therapeutisch auf Sie. Oder gehören Sie auch zu den atheistischen Wissenschaftlern?«
»Ich bin kein Atheist, Rabbi«, sagte Dr. Bernstein und fuhr in seine Sandalen. »Ich bin Unitarier.«
In der folgenden Woche war Michael am Montag-, Mittwoch und Freitagmorgen ziemlich unansprechbar. Im stillen verwünschte er es, daß er je Geistlicher einer psychiatrischen Anstalt geworden war, es wäre soviel einfacher gewesen, keine Details zu wissen.
Aber er wußte, daß sie um sieben in der Abteilung Templeton mit den Schockbehandlungen begannen.
Im Vorzimmer Leslie, seine Leslie, wartend auf ihren Aufruf wie die anderen Patienten. Die Schwestern führen sie an ein Bett, sie streckt sich darauf aus. Der Wärter zieht ihr die Schuhe von den Füßen und schiebt sie unter die dünne Matratze. Der Anästhesist stößt ihr die Nadel in die Vene...
Sooft Michael der Behandlung beigewohnt hatte, waren da auch Patienten gewesen, deren Venen so schlecht waren, daß man nicht stechen konnte, und der Arzt hatte sich geplagt, murrend und fluchend.
Mit Leslie geht alles glatt, dachte er dankbar. Ihre Venen sind schmal, aber ausgeprägt. Berührst du sie mit den Lippen, so spürst du ganz deutlich den Pulsschlag.
Durch die Kanüle führen sie ihr ein Barbiturat zu, und dann wird sie einschlafen, gepriesen seist du, Herr, unser Gott. Dann gibt ihr der Anästhesist eine muskelentspannende Spritze, und die normale Lebensspannung erschlafft. Die schöne Brust hebt und senkt sich nicht mehr. Das besorgt jetzt das schwarze Mundstück, das man ihr über Nase und Mund stülpt: denn der Anästhesist führt ihr Sauerstoff zu -
atmet für sie. Die Gummisperre zwischen den Zähnen verhindert, daß sie sich in die Zunge beißt. Der Wärter reibt ihr die Schläfen ab, damit die halbdollargroßen Elektroden besser an der Schädeldecke haften.
Dann, auf das gelangweilte »All right« des Anästhesisten, drückt der Stationsarzt den Knopf an dem schwarzen Kästchen. Fünf Sekunden lang dringt der Wechselstrom ihr in den Kopf, ein Orkan aus Elektrizität, der ihre Glieder trotz aller entspannenden Mittel zuckend krampft und löst, krampft und löst wie im epileptischen Anfall.
Michael holte sich Bücher aus der Leihbibliothek und las alles, was er über den Elektroschock finden konnte. Und mit Schrecken wurde ihm nach und nach klar, daß weder Dan Bernstein noch irgendein anderer Psychiater genau wußte, was in dem von elektrischen Strömen geschüttelten Gehirn seiner Frau wirklich vorging. Sie hatten nichts als Theorien und die praktische Erfahrung, daß die Behandlung zu Heilerfolgen führte. Nach einer dieser Theorien ließ der elektrische Strom die abnormen Gehirnschaltungen durchbrennen; nach einer zweiten kam der Elektroschock dem Todeserlebnis so nahe, daß er dem Strafbedürfnis Genüge tat und die Schuldgefühle, welche den Patienten in die Depression getrieben hatten, beruhigte.
Genug! Er las nicht mehr weiter.
An jedem Behandlungstag rief er um neun Uhr im Krankenhaus an und erhielt jedesmal von der Stationsschwester die gleichlautende, mit ausdruckslos-nasaler Stimme gegebene Auskunft, daß die Behandlung ohne Störung verlaufen sei und Mrs. Kind schlafe.
Er mied die Menschen, beschäftigte sich mit Schreibarbeiten, erledigte erstmals im Leben seine gesamte Korrespondenz, ja machte sogar Ordnung in seinen Schreibtischladen. Trotzdem: am zwölften Tag der Schocktherapie rief ihn sein Amt. Am Nachmittag mußte er zu einer briss-mile, wo er den Segen sprach über ein Kind namens Simon Maxwell Shutzer, während der mojhel die Vorhaut wegschnitt, der Vater erbebte und die Mutter erst schluchzte und dann befreit lachte. Hernach durch-maß er das Leben von der Geburt bis zum Tod in kaum zwei Stunden, denn sie begruben die alte Sarah Myerson, deren Enkel weinend dem ins Grab sinkenden Sarg nachsahen. Als er nach Hause kam, war es bereits dunkel. Er war hundemüde. Schon auf dem Friedhof hatte der Schnee zu wehen begonnen, so daß die Gesichter brannten. Michael fror bis ins Mark. Eben wollte er der Hausbar einen Whisky entnehmen, da sah er den Brief auf dem Vorzimmertisch. Als er nach ihm griff und die Handschrift darauf erkannte, zitterten ihm die Hände beim öffnen. In Bleistiftschrift auf billigem, wahrscheinlich geborgtem blauem Briefpapier las er:
Mein Michael, heute nacht hat eine Frau durch den ganzen Saal geschrien, daß ein Vogel gegen ihr Fenster schlage, mit seinen Flügeln immer gegen ihr Fenster schlage. Schließlich haben sie ihr eine Injektion gegeben, und sie ist eingeschlafen. Und heute früh hat ein Wärter den Vogel gefunden, es war ein Spatz, schon ganz vereist, auf dem Fußweg.
Sein Herz hat noch geschlagen, und als sie ihm mit einem Tropfer warme Milch einflößten, hat er sich erholt. Der Wärter hat ihn der Frau dann gezeigt. In der Apotheke haben sie ihn in eine Schachtel gegeben, aber heute nachmittag war er tot.
Ich bin in meinem Bett gelegen und habe an die Waldvogelrufe vor unserer Hütte in den Ozarks gedacht, und daran, wie ich in Deinen Armen gelegen bin und ihnen gelauscht habe, nach der Liebe, und in unserer Hütte war nur unser Herzschlag zu hören und draußen nichts als der Vogelschlag.
Ich sehne mich nach meinen Kindern, ist alles in Ordnung mit ihnen?
Vergiß nicht, warme Wäsche anzuziehen, wenn Du ausgehen mußt. Iß viel frisches Gemüse und würz nicht zu stark.
Alles Gute zum Geburtstag, Du Armer!
Leslie
Mrs. Moscowitz kam herein, um zum Abendessen zu rufen. Erstaunt blickte sie auf seine nassen Wangen. »Ist etwas passiert, Rabbi?«
»Meine Frau hat geschrieben. Es geht ihr schon besser, Lena.« Das Abendessen war, wie immer, verbraten. Zwei Tage später eröffnete Mrs.
Moscowitz, daß ihr verwitweter Schwager, dessen Tochter in Willimantic, Connecticut, darniederlag, sie brauche. Auf Mrs. Moscowitz folgte Anna Schwartz, ein fettes grauhaariges Weib. Sie war asthmatisch, hatte am Kinn einen Auswuchs, war aber sonst sehr sauber und verstand sich aufs Kochen, sogar auf lokschenkugl mit Rosinen und Zibeben - und mit einer Kruste, zu schade zum Hineinbeißen.
Als die Kinder ihn fragten, was die Mutter geschrieben habe, sagte er nur, es sei ein verspäteter Geburtstagswunsch gewesen. Es war kein Wink mit dem Zaunpfahl - oder vielleicht doch: jedenfalls bestand anderntags das Resultat in einer selbstgezeichneten Glückwunschkarte Rachels und in einer gekauften von Max sowie in einer schreienden Krawatte von beiden; sie paßte zu keinem seiner Anzüge, aber er trug sie an jenem Morgen im Tempel.
Geburtstage stimmten ihn optimistisch. Es waren Wendepunkte, wie er sich voll Hoffnung sagte.
Der sechzehnte Geburtstag seines Sohnes fiel ihm ein - das war vor drei Monaten gewesen.
An diesem Tag hatte Max seinen Glauben an Gott verloren. Sechzehn Jahre, das ist das Alter, mit dem man in Massachusetts um einen Führerschein ansuchen kann.
Michael hatte Max in seinem Ford Fahrunterricht erteilt. Die Prüfung war auf Freitag, den Vorabend seines Geburtstags, festgesetzt, und für den Abend des Samstags war er mit Dessamae Kaplan verabredet, einem Mädchen zwischen Kind und Frau, so blauäugig und rothaarig, daß Michael seinen Sohn um sie beneidete.
Sie wollten zu einer Tanzveranstaltung gehen, die in einer Scheune über dem See stattfand. Für den Nachmittag hatten Leslie und Michael ein paar Freunde ihres Sohnes zu einer kleinen Geburtstagsparty eingeladen, in der Absicht, ihm danach die Wagenschlüssel auszuhändigen, so daß er zum Geburtstag erstmals ohne elterliche Aufsicht fahren könne.
Aber am Mittwoch vorher war Leslie in Depression verfallen und ins Krankenhaus gekommen, und Freitag vormittag hatte Michael erfahren, daß von baldiger Entlassung keine Rede sein könne. Hierauf hatte Max seinen Fahrprüfungstermin und auch die Party abgesagt. Als Michael aber hörte, daß Max auch Dessamae versetzte, meinte er, daß Einsiedlertum der Mutter nicht helfe.