»R A C H E L?« rief er.
Grillen zirpten im Gras, und das Wasser schlug an die Felsen. Im bleichen Mondlicht blickte Max suchend über die Wasserfläche.
»RA-A-CHEL...«
Unter einem Baum in der Nähe lachte jemand, und einen Augenblick lang glaubte er, sie gefunden zu haben. Aber dann entdeckte er drei Gestalten, zwei Männer in Badehosen und eine Frau, die nicht viel älter war als er. Sie trug nur Rock und ärmellose Bluse, und sie saß mit dem Rücken an den Baum gelehnt, die Knie hochgezogen; ihre Schenkel schimmerten im Mondlicht.
»Ist dir dein Mädchen abhanden gekommen, Junge?« fragte sie und lachte wieder.
»Meine Schwester«, sagte Max. »Acht Jahre. Habt ihr sie nicht gesehen?«
Die drei hielten geöffnete Bierdosen in den Händen, und die Frau hob die Dose an den Mund und trank, und Max sah die Schluckbewegungen ihrer weißen Kehle. »Ah, das ist gut«, seufzte sie.
»Da ist kein Kind vorbeigekommen«, sagte einer der Männer. Max lief weiter, und der andere Mann sagte noch etwas, und die drei unter dem Baum hinter ihm lachten.
Er erinnerte sich eines Nachmittags vor zwei Sommern, als er in dieser Gegend des Sees beim Schwimmen gewesen war und ein Ertrunkener gefunden wurde. Aus den Haaren des Mannes war Wasser geflossen, als sie ihn herauszogen, und sein Körper war schon teigig aufgequollen gewesen. Rachel konnte nicht mehr als ein paar Meter schwimmen, und wenn sie versuchte, sich auf dem Rücken treiben zu lassen, bekam sie Wasser in die Nase.
»Bitte, Gott«, sagte er. »O Gott, bitte, bitte, bitte.«
Er rannte und rannte, stolperte auf dem überwachsenen Pfad, der jetzt zu gewunden war, als daß Rufen einen Sinn gehabt hätte, rannte und stolperte und betete lautlos und unaufhörlich. Als er das Boot entdeckte, war es an die sechzig Meter vom Ufer entfernt. Es war ein alter Kahn, schwarz im Mondlicht, und sein Bug wies in die falsche Richtung, zum nahen Strand. Im Heck saß eine kleine Gestalt in weißem Pyjama.
Max streifte Sandalen und Hosen ab; als er die zusammengerollten Jeans ins Gras warf, kollerten sie über die Uferböschung ins Wasser, doch das kümmerte ihn nicht: er sprang in den See. In Ufernähe war das Wasser seicht, der Felsgrund, den er in flachem Kopfsprung erreichte, begann weiter draußen. Sobald er mit der Brust den Stein streifte, tauchte er auf und begann rasch auf das Boot zuzuschwimmen. Er erreichte es und schwang sich hinein.
»Hallo, Max«, sagte Rachel, versonnen in der Nase bohrend. Er lag mit ausgebreiteten Armen im Boot und atmete keuchend. Das Boot hatte viel Wasser gezogen, denn es war alt und schon ziemlich leck.
»Da drüben ist Mama«, sagte sie.
Max blickte auf die gelben Lichterreihen, auf die Rachel gewiesen hatte.
Sie waren am gegenüberliegenden Ufer, etwa vierhundert Meter entfernt.
Er rückte zu seiner Schwester hinüber und legte seine nassen Arme um sie. So verharrten sie minutenlang und ließen die Lichter des Krankenhauses nicht aus den Augen. Keiner sagte ein Wort. Es war sehr still. Dann und wann wehte Tanzmusik von der Scheune jenseits des Wassers herüber. Vom näheren Ufer ertönte schrilles Mädchenlachen, das in Kreischen überging. Die Biergesellschaft, dachte Max.
»Wo sind denn die Ruder?« fragte er schließlich. »Zwei müssen es sein.«
»Es war nur eins da, und das habe ich verloren. Vielleicht ist es untergegangen. Übrigens, warum bist du in Unterhosen, sie kleben dir so komisch am Körper.«
Die ganze Zeit über hatte er den Wasserspiegel im Boot beobachtet.
Kein Zweifel, er stieg. »Rachel, das Boot sinkt. Ich werde mit dir an Land schwimmen müssen.«
Rachel blickte auf das dunkle Wasser hinaus. »Nein«, sagte sie. Er hatte sie beim Schwimmen schon oft auf sich reiten lassen, aber jetzt war er müde, und er traute sich nicht mehr Kraft genug zu, sie im Fall ihrer Gegenwehr sicher an Land zu bringen. »Rachel, wenn du dich brav ziehen läßt, bekommst du von mir einen halben Dollar«, sagte er.
Sie winkte ab. »Nur unter einer Bedingung.«
Er beobachtete das Wasser im Boot. Es stieg nun rapid. »Unter welcher?«
»Du läßt mich zwei Tage lang auf deiner Harmonika spielen.« »Na, so komm schon«, sagte er. Er schwang sich über den Bootsrand und hielt ihr wassertretend die Arme entgegen. Zwar schrie sie auf, als sie das Wasser spürte, aber sobald er auf dem Rücken lag, die Hand unter ihrem Kinn, und sie küstenwärts zog, verhielt sie sich ruhig.
Seine Sandalen standen noch auf ihrem Platz, aber die Jeans waren nicht zu finden. Mit den Händen den schlammigen Grund abtastend, suchte er nach ihnen.
»Was suchst du denn da?« »Meine Hosen.«
»Vielleicht findest du auch mein Ruder.«
Zehn Minuten lang suchte er ohne Erfolg, bereicherte dabei das Vokabular seiner Schwester um einige Ausdrücke, und kapitulierte schließlich.
Auf dem Weg zu den Fahrrädern ließ er ihre Hand nicht aus der seinen und spähte dabei nach den zwei Männern und der Frau aus, aber alles, was er von ihnen entdeckte, war ein leerer Bierkarton unter dem Baum, wo sie vorhin getrunken hatten.
Die Heimfahrt dauerte länger als gewöhnlich, denn Max hatte vorn keinen Reißverschluß an der Unterhose; so wählte er nur die schlecktest beleuchteten Straßen und verschwand zweimal im Gebüsch am Straßenrand, weil Autos entgegenkamen. Müde und zerkratzt, verstaute er endlich die Fahrräder im Dunkel der Garage. Er drehte das Licht nicht an, denn die Garagenfenster hatten keine Vorhänge.
»Ich werde bestimmt nicht in die Harmonika spucken«, versprach Rachel, während sie in der Zufahrt stand und sich kratzte. »So mach schon«, sagte sie gähnend. »Ich möcht ein Glas Milch.«
Max war schon daran, ins Haus zu gehen, als der Klang sich nähernder Schritte ihn wie angewurzelt erstarren ließ. Es waren leichte weibliche Schritte, und er hatte sie erkannt, noch ehe er Dessamae Kaplans Stimme hörte.
»Rachel? Was machst du da heraußen? Wo ist denn Max?« »Wir waren schwimmen und radfahren. Ich habe meinen Pyjama an, und Max nur seine Unterwäsche. Sieh mal!«
Damit knipste sie das Licht an, und Max stand in seinen verdreckten gelben Unterhosen wie angezwurzelt auf dem ölfleckigen Garagenboden, mit beiden Händen sein Geschlecht bedeckend, während die Liebe seines Lebens quiekend ins Dunkel entfloh.
All dies erzählte Max Rabbi Kind, als sie den folgenden Freitagabend auf dem Weg zum Tempel waren.
Und nun, drei Monate danach, am Tische sitzend, wo sein eigener Geburtstagsbrief, die Glückwunschkarten und Geschenke vor ihm aufgebaut standen, dachte Michael an jenen Geburtstag seines Sohnes und schrieb seiner Frau einen Brief ins Krankenhaus, das jenen Strand überschaute, wo Max seinen Gott gefunden und seine Hosen verloren hatte.
An einem Winterabend - der Nordost wehte die riesigen Flocken beinahe waagrecht vor sich her - trug der Rabbi drei Armvoll Brennholz aus dem hinteren Schuppen ins Haus und machte Feuer, wobei er das Holz viel zu hoch aufschichtete, so daß die Hitze den Raum beinahe versengte. Dann mischte er sich einen doppelten Whisky-Soda, nahm das Buch Berakoth zur Hand und verlor sich in die Spitzfindigkeiten des Babylonischen Talmuds wie in einen Traum.
Schon lange hatte er nicht solch einen Abend verbracht. Er las bis nach elf und unterbrach seine Lektüre nur, um Holz nachzulegen und seinen Kindern gute Nacht zu wünschen.
Dann, gähnend und sich streckend, machte er sich an seine tägliche Korrespondenz.
Der junge Jeffrey Kodetz erbat da ein Leumundszeugnis, das er seinem Aufnahmegesuch in das Massachusettes Institute of Technology beilegen sollte. Wenn er damit zuwartete, bis er es seiner Sekretärin Dvora Cantor diktieren konnte, blieb es ewig liegen. So setzte er sich hin und schrieb ein erstes Konzept, das er ihr anderntags zur Reinschrift geben konnte.
Ein weiterer Brief kam von der Absolventenvereinigung des Columbia College, des Inhalts, daß sein Jahrgang in achtzehn Monaten das fünfundzwanzigste Jubiläum feiern werde. Zuzüglich seiner Anmeldung erbat man von ihm innerhalb der nächsten drei Monate auch einen Lebenslauf, der in der Festschrift zur Fünfundzwanzig-Jahr-Feier gedruckt werden sollte.