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Der Auftakt der neuen Nibelungen-Saga

Hagen von Tronje und der Fluch des Rheingolds

Als er auf dem Schlachtfeld erwacht, ist Hagen blind. Ein Hieb hat ihm das Augenlicht geraubt. Hilflos irrt der gefürchtete Recke durch die Finsternis - bis er eine sanfte, flüsternde Stimme vernimmt. Ein rätselhaftes Mädchen mit Namen Nimmermehr verspricht ihm Heilung und Hilfe, wenn er ihr sein Geheimnis verrät: die Geschichte vom ersten Raub des Rheingolds und dem Zorn des Siebenschläfers.

Kai Meyer, der Autor des Bestsellers »Die Geisterseher«, erweckt einen faszinierenden Mythos zu neuem Leben. Er erzählt seine aufregende und poetische Geschichte über Hagen von Tronje, den finsteren Helden des Nibelungenliedes.

ECON Unterhaltung

Hagen von Tronje ist der dunkelste Ritter des Nibelungenliedes. Über seine wahre Herkunft weiß man wenig. Der Nachwelt gilt er als Verräter, der dem stolzen Siegfried den Untergang bringt. In diesem ersten Band einer großen neuen Saga um die Helden des Nibelungenliedes wird eine ganz andere Geschichte vom gefürchteten Hagen erzählt. Schon als Kind ist Hagen vom Rhein fasziniert, dem sagenumwobenen Fluß seiner Heimat. Eines Tages jedoch legt er sich mit den Geistern des Flusses an und erweist sich als Dieb des Rheingoldes. Doch Hagen muß erkennen, daß niemand ungestraft die Flußgeister berauben darf.

Kai Meyer, Jahrgang 1969, gilt als einer der kreativsten jungen Erzähler. Er hat sich vor allem als Autor spannungsreicher historischer Romane einen Namen gemacht. Sein Debüt »Die Geisterseher« wurde von der Frankfurter Allgemeinen bis hin zur Süddeutschen Zeitung als überaus gelungen und ambitioniert gewertet. Kai Meyer lebt in der Nähe von Köln.

Im Verlag Marion von Schröder ist im Frühjahr 1997 sein großer phantastischer Roman »Hex« erschienen.

Kai Meyer

Der Rabengott

Roman

Der Romanzyklus »Die Nibelungen« entstand

nach einer Idee von Kai Meyer.

Konzeption: Kai Meyer/Reinhard Rohn

ECON Taschenbuch Verlag

Für Alexander

Veröffentlicht im ECON Taschenbuch Verlag

Originalausgabe

©1997 by Kai Meyer

© der deutschen Ausgabe 1997 by ECON Verlag GmbH, Düsseldorf

Umschlaggestaltung: Init GmbH, Bielefeld

Titelabbildung: Agentur Schlück

Lektorat: Reinhard Rohn

Gesetzt aus der Goudy, Linotype

Satz: Josefine Urban - KompetenzCenter, Düsseldorf

Druck und Bindearbeiten: Ebner Ulm

Printed in Germany

ISBN 3-612-27410-4

Prolog

In dieser Nacht würde der Junge den Fluß bestehlen.

Das Licht des Vollmondes brach sich in weißen Kristallsplittern auf dem Wasser, als der Junge das Rheinufer erreichte. Sein Bruder, ein Jahr weniger vom Bartwuchs entfernt, lief an seiner Seite. Johlend, jubelnd, alle beide.

Vor zwei Tagen hatte unweit von hier ein alter Schuppen gestanden, in dem die Fischer ihre Netze aufbewahrten. Am Abend hatte das Hochwasser den Giebel verschluckt, und immer noch stieg es höher und höher; schon stand der halbe Hang unter Wasser, ganze Waldstücke waren in den Fluten versunken, wiegten sich lautlos in der reißenden Strömung.

Der Fluß würde noch weiter steigen, hatten die Alten prophezeit. Der Pfaffe hatte gar vorgeschlagen, eine Arche zu bauen. Man hatte ihn ausgelacht.

Der Junge und sein Bruder ließen sich erschöpft vom Fangenspiel ins Gras fallen. Aus den Mauern der Burg, weit oberhalb des Hangs, ertönte gedämpft der Trubel der Feier: das Fiedeln der Spielleute, das Gröhlen der Betrunkenen, das Kreischen der Weiber. Manchmal hörte der Junge seinen Vater heraus; als Burgherr war es an ihm, polternde Trinksprüche auszubringen, die das Singen und Brüllen übertönten. Das fiel ihm keineswegs schwer, denn seine Stimme - davon waren beide Söhne überzeugt - reichte von hier bis zur nächsten Stadt, ganze zwei Tagesritte entfernt.

Hier unten, am neuen Ufer, klangen die Laute der Feierlichkeiten wie Echos aus einer anderen Welt, weit, weit entfernt. Das wilde Rauschen der Strömung, das Wimmern des Windes: beides nahezu ohrenbetäubend. Dem Jungen war fröhlich zumute, fast beschwingt; er wußte, er tat etwas Verbotenes.

Deutlich, vor allem aber stimmgewaltig, waren die Worte seines Vaters gewesen: »Geht nicht hinab zum Fluß, nicht solange er über die Ufer tritt!«

Sie waren trotzdem hergekommen, sein Bruder ein wenig zögernd und mit verstohlenen Blicken zur Burg hinauf, der Junge aber frohgemut und stolz auf seine Kühnheit. Viele waren schon von den Fluten fortgerissen worden, unvorsichtige Fischer, Mägde beim Wäschewaschen, arglose Holzsammler, die Äste aus dem Wasser angeln wollten. Sie alle hatte der Strom in die Tiefe gerissen, strudelnd, sprudelnd, alles verschlingend.

»Sieh nur, da vorne!« rief plötzlich sein Bruder und deutete flußaufwärts ins Dunkel.

Der Blick des Jungen folgte der ausgestreckten Hand seines Bruders. Er spürte sogleich, wie sein Herz schneller schlug.

Im fahlen Licht des Vollmondes wippte etwas Großes, Finsteres auf dem Wasser, auf und nieder, ohne sich dabei vom Fleck zu bewegen. Das Gebilde hatte sich in der Krone einer Buche verfangen, die mit starken Ästen danach krallte.

»Ein Boot!« stieß der Junge aufgeregt aus und sprang auf die Füße. »Das ist ein Boot!«

»Natürlich ist es das«, gab sein Bruder zurück; er wollte mürrisch und schlau erscheinen, zwei Eigenschaften, die in seinen Augen zusammengehörten. »Was denn sonst? Ein Riesenfisch?«

Die letzten Worte hörte der Junge schon gar nicht mehr, denn er lief ausgelassen am Ufer entlang nach Süden. Der Boden fiel steil zum Wasser hin ab; es war gefährlich, hier so schnell zu laufen. Das durchgeweichte Erdreich mochte absacken und ihn hinunter in den Rhein reißen, so wie den Sohn des Mundschenks, beim letzten Hochwasser vor acht Jahren.

Auf Höhe des Wracks hielt der Junge an und starrte angestrengt hinaus auf den Fluß. Es war ein großes Boot, fast ein kleines Schiff, mit überdachtem Unterdeck und einem Mittelgang zwischen den Ruderbänken. Der Mast war in Schulterhöhe abgebrochen; von ihm und dem Segel war keine Spur zu sehen. Auch gab es kein Leben an Deck, keinen Mensch weit und breit. Die Besatzung mußte an einer günstigen Stelle über Bord gegangen sein, in der Hoffnung, trotz der Strömung das Ufer zu erreichen. Der Junge bezweifelte, daß alle es geschafft hatten. Trotzdem blickte er vorsichtshalber nach Süden; nach dreißig, vierzig Schritten verschwand das mondbeschienene Gras in einem Wald, dessen tiefergelegene Teile bis zu den Wipfeln im Wasser standen. Das Gelände war verlassen.

Das Boot hatte sich längsseits zur Strömung in der Buche verkeilt. Das Wasser klatschte gegen seinen Rumpf, spritzte schäumend über die Reling, voller Wut über die Herausforderung. Der Bug war etwa fünf Schritte vom Ufer entfernt, wurde von den Wellen auf- und abgeschleudert.

Der Junge wagte nicht, mit den Füßen ins kalte Wasser zu steigen. Obgleich die Buche so nah am Ufer stand, war sie bis zu den oberen Ästen im Fluß versunken; unweit des Jungen befand sich unter der Wasseroberfläche eine jähe Steilwand. Selbst wenn es ihm gelungen wäre, der Strömung standzuhalten, hätte er dennoch nicht bis zum Boot waten können. Er hätte schwimmen müssen, und das mochte übel enden.

Sein Bruder trat neben ihn und blickte gleichfalls zum Wrack. »Wem mag es gehören?«

»Und was mag es geladen haben?« Abenteuerlustig gab der Junge sich selbst eine Antwort: »Vielleicht einen Schatz.«