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»Sicher. Die Strömung hat dich angeschwemmt. Du hast entsetzliches Glück gehabt.«

Ja, dachte Hagen, das habe ich wohl. »War das Wrack noch in der Nähe?«

»Ich habe es nicht mehr gesehen.«

»Auch keine Teile? Irgendwelche Planken oder Bretter?«

»Nichts.«

»Es war wirklich fort?«

Dankwart wurde ungehalten. »Verdammt, das habe ich doch gerade gesagt! Weshalb liegt dir soviel daran? Und von was für Gold hast du eben gefaselt?«

»Nur ein... ein Fiebertraum«, stammelte Hagen und wußte sofort, daß Dankwart ihm kein Wort glauben würde.

»Sag mir die Wahrheit!« Dankwart spielte die Rolle des großen Bruders selten, sie lag ihm nicht besonders, denn Hagen war genauso hochgewachsen wie er und sogar um einiges stärker. Lediglich in Vernunftsdingen war Dankwart ihm voraus.

Hagen spürte, wie ihm das Blut ins Gesicht schoß. Er wünschte sich, sein Bruder würde endlich verschwinden. »Ich weiß nicht«, gestand er tonlos, »vielleicht war es wirklich ein Traum.« Und dann erzählte er Dankwart widerwillig alles, was geschehen war. Vom Kreis der fünf Tannen, vom Schatz in ihren Wipfeln. Mit jedem Bruchstück der Ereignisse, das er preisgab, kehrte ein wenig Kraft in seinen Körper zurück. Sein Schweigen war schlimmer gewesen als jede Krankheit, das spürte er jetzt. Selbst das heftige Niesen, das ihn in kurzen Abständen überkam, wurde erträglicher.

Eines aber ließ er trotz allem in seiner Erzählung aus: die plötzliche Kälte, die aus der Tiefe des Flusses aufgestiegen war. Er stellte sie sich immer noch vor wie einen Riesenfisch aus Eis, der mit aufgerissenem Rachen und Zähnen aus Kristall vom Grund des Stroms zu ihm emporschoß.

So beendete er seinen Bericht damit, daß er das Bewußtsein verloren hatte und sich an nichts weiter erinnern konnte. Genaugenommen war das sogar die Wahrheit.

Dankwart sah ihn eindringlich an, mit kunstvoller Ernsthaftigkeit, die die Sorge eines Mannes nachahmte. »Am besten vergißt du das alles. Das Gold ist fort, und du bist am Leben. Du solltest dankbar sein.« Er grinste bemüht. »Ich jedenfalls bin es, sonst hätte Vater mir wohl den Kopf abgerissen.«

Wenn ich herausfinde, daß du das Gold gestohlen hast, werde ich das höchstpersönlich übernehmen, dachte Hagen. Aber er sagte nur matt: »Ich will jetzt schlafen.«

Dankwart nickte verständnisvoll. In seinen Augen war nach wie vor Sorge, aber sie schien nicht mehr allein Hagens Befinden zu gelten. »Ich werde Bärbart bitten, den Baum erst für heute abend fertigzumachen. Er wird das verstehen.«

»Danke«, sagte Hagen und schloß die Augen.

Tatsächlich war es nicht der Gestank, der ihm das größte Unbehagen bereitete, aber er war fraglos das erste, was Hagen wahrnahm, als man ihn auf einer Trage vom Burgtor zum Baum schleppte. Ein widerlicher Geruch nach Schmutz und Abfall, durchmischt mit dem Fäulnisodem toter Fische. Warum hatte Hagen ihn nicht bemerkt, als er mit Dankwart am Ufer gespielt hatte?

»Es riecht erst seit ein paar Tagen so«, sagte Tilda, die an der Seite der Trage ging und ihn mit sorgenvollen Blicken bedachte. An seinem Naserümpfen hatte sie erkannt, welche Gedanken er hegte. »Die Alten sagen, es ist der Fluß, das, was auf seinem Grund liegt. Tote Tiere und Pflanzen, die tief unter der Oberfläche verfaulen. Das Hochwasser hat sie nach oben gewirbelt.«

Bei Anbruch der Dämmerung war die Amme in Hagens Kammer gekommen und hatte ihm beim Aufstehen geholfen. Wenig später waren auf Tildas Geheiß zwei Männer eingetreten, riesenhafte Stallknechte mit Schultern so breit wie Wagenräder. Hagen hatte protestiert, er könne allein gehen, doch sie hatten darauf bestanden, ihn zum Baum zu tragen.

Jetzt lag er nackt unter einer Felldecke, und immer noch hallte der Anblick der leeren Flure und Zimmer der Burg in ihm nach; alle Bewohner mußten sich draußen versammelt haben, um dem Schauspiel beizuwohnen. Aber es war nicht der Gedanke an ihre Blicke, der ihn ängstigte.

In der Dunkelheit erkannte Hagen Dutzende lodernder Fackeln, wie eine Versammlung zuckender Irrlichter. Als sich die Träger der Menschenmenge näherten, begann sich vor ihnen geschwind eine Gasse zu bilden. Der Ring aus Leibern öffnete sich und gab den Blick frei auf den Baum selbst, eine gewaltige Eiche, deren Krone sich weit über den Rand einer Felsklippe spannte. Alle anderen Bäume im Umkreis von zehn Schritten waren gefällt worden. Die Eiche erhob sich einsam und eitel über einem Ruinenfeld aus Baumstümpfen, die wie Grabmonumente aus dem schlammigen Boden ragten. Das Gelände führte bergauf, die Eiche stand auf dem höchsten Punkt der Klippe. Hinter ihr in der Finsternis rauschte der Rhein.

Am Fuß des Baumes standen Bärbart und Graf Adalmar. Hagens aufgeregter Blick fand seine Mutter an der Seite des Pfaffen Viggo, in der vorderen Reihe der Menschenmenge. Ihre Leibdiener hielten rußende Fackeln. Der Wind schien die Flammen in Stücke zu reißen.

Dankwart stand neben der Gräfin und schenkte seinem Bruder ein flüchtiges Lächeln. Es sollte ihn aufmuntern, verfehlte aber gänzlich seine Wirkung. Im zuckenden Fackelschein wirkte es verzerrt, die schattenhafte Fratze eines Kobolds.

Tilda blieb am inneren Rand des Menschenringes zurück, während die beiden Träger Hagen zum Baum brachten. Zwischen der Eiche und den Zuschauern lagen mehr als fünf Mannslängen Ödland; niemand, dem es nicht ausdrücklich erlaubt war, durfte näher herantreten.

Der Baum war von Bärbarts Vorgängern, Männern wechselnder Weisheit, angepflanzt und aufgezogen worden. In der Umgebung der Burg gab es noch mehr solcher Eichen, zehn oder elf insgesamt. Sie alle unterschieden sich von den übrigen Wald bäumen durch ihre Form: Ihre Stämme teilten sich in Brusthöhe zu einer feigenförmigen Öffnung, groß genug, daß ein Mensch mit Mühe hindurchkriechen konnte. Jede der Eichen war einem Mitglied der gräflichen Familie geweiht, sie blieb sein ein ganzes Leben lang. Und doch wurden die wenigsten dieser Bäume je ihrer Bestimmung zugeführt, denn die Folgen des Rituals waren unerforscht und galten als gefährlich.

Trotzdem hatte Graf Adalmar sich von Bärbart überzeugen lassen, daß in Hagens Fall ein Wunder vonnöten war, denn was immer auch dem Jungen widerfahren war, es konnte nichts Natürliches gewesen sein. Daher gab es nur einen Weg: Hagens Leib und Seele mußten gereinigt werden. Gereinigt durch die Zweite Geburt.

Bärbart war ein großer Mann mit buschigen Brauen und einem dunklen, struppigen Bart. Sein wildes Haar stand zumeist in alle Richtungen ab, doch an diesem Abend hatte er es sich mit Tierfett zu zwei mächtigen Hörnern geformt, eine Tribut an die Waldgeister. Die schwarzen Spitzen stachen schräg über seiner Stirn empor, jede so lang wie ein Unterarm.

Kein Wunder, daß Viggo, der Burgpfaffe, bei diesem Anblick die Augen geschlossen und die Hände gefaltet hatte. Seine Lippen zuckten aufgeregt in einem stummen, nicht enden wollenden Gebet. Hagens Mutter tat es ihm nach, sie hob nicht einmal die Lider, als man ihrem Sohn von der Trage half. Ihre Lippen waren farblos, fast weiß. Sie war die einzige in der ganzen Burg, die dem Christenpriester blind vertraute; alle anderen hatten wenig für sein Geschwafel übrig, wenngleich einige sicherheitshalber seine Messen besuchten. Viggo hielt sie in einem ehemaligen Kerker ab, den Adalmar ihm auf Drängen der Gräfin - und voller Verachtung - überlassen hatte.

Der gehörnte Bärbart führte Hagen nun auf die andere Seite des Baumes, jene, die der Felskante und dem strudelnden Fluß darunter zugewandt war.

»Kannst du allein hindurchklettern?« fragte er leise.

Hagen nickte, obgleich er dessen keineswegs sicher war. Die Gewißheit, den schwarzen Fluß im Rücken zu haben, ängstigte ihn fast noch mehr als das bevorstehende Ritual.

Bärbart nahm die stumme Antwort seines Schützlings zufrieden und nicht ohne Stolz zur Kenntnis. Er hatte nie einen Hehl daraus gemacht, daß er Hagen für einen geeigneteren Erben der Grafschaft hielt als den älteren Dankwart. Trotzdem mochte Hagen ihn ebensowenig wie sein Bruder; beide Jungen fürchteten Bärbarts Klugheit ebenso wie seine Vertrautheit mit Geistern und Göttern. Die kunstvollen Hörner, die er sich auf die Stirn modelliert hat, waren nur die äußeren Zeichen einer dämonischen Aura, die Bärbart umgab wie ein schlechter Geruch.