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»Dieser Baum ist dir seit deiner Geburt geweiht, ihr seid wie Brüder, er weiß das, du weißt das.« Bärbart sprach, als rezitiere er eine Zauberformel, seltsam gleichförmig, unbetont. »Du wirst durch den Spalt gehen und auf der anderen Seite zum zweitenmal geboren werden. Schließt sich der Spalt innerhalb der nächsten Jahre, so weiß jeder, daß du geheilt bist. Was immer dir in den vergangenen Tagen widerfuhr, die Spuren werden verblassen.«

Hagen wußte das alles längst, jedes Kind in dieser Gegend kannte die Regeln der Zweiten Geburt. Dennoch gehörte die Unterweisung durch den Zeremoniemeister zum Ritual.

»Du und der Baum«, fuhr Bärbart fort, »ihr werdet nach deiner Heilung eng miteinander verbunden sein, enger, als dies zwei Menschen jemals sein könnten. Nicht Mann und Weib, nicht Kind und Mutter. Du und der Baum, ihr werdet im Angesicht der Götter eins sein. Scheidest du dereinst aus dem Leben, so wird dein Geist in den Stamm fahren und in ihm weiterleben.« Er sah dem Jungen eindringlich in die Augen, bis Hagen glaubte, nicht nur sein Körper sei nackt, sondern auch seine Gedanken. Zum ersten Mal wurde ihm bewußt, wie sehr er fror. Aber Kleidung war während des Rituals nicht gestattet.

»Hast du alles verstanden?« fragte Bärbart streng.

»Ja.«

»Bist du bereit, die Zweite Geburt zu vollziehen?«

»Ich bin bereit.«

Bärbart hob die Stimme, so daß alle ihn hören konnten. »Die Zeremonie kann beginnen!«

Stille legte sich über die Menge der Burgbewohner. Nur das Knistern der Fackeln und das Flüstern des Flusses waren zu hören. Hagen schien es, als vernähme er Stimmen im Rauschen der Strömung, ein Glucksen voller Schadenfreude, ein Wispern in der Finsternis.

Adalmar trat vor und zog seinen Sohn kraftvoll an sich. Er umarmte ihn, als sei dies ein Abschied für immer, die Geste eines Kriegers vor der Schlacht. Dann trat er einige Schritte zurück. Nur Bärbart blieb bei Hagen am Baum, nahm jedoch an der bergabgewandten Seite Aufstellung, um den Jungen dort entgegenzunehmen.

Hagen stand ganz allein zwischen Eiche und Abgrund, sein nackter weißer Körper schimmerte wie ein Geist in der Dunkelheit. Die Nacht schien ihn zu liebkosen, mit ihrem Versprechen von Stille und Schlaf, doch da war noch etwas anderes. Die Stimme der Strömung raunte Geheimnisse zu ihm empor, deren Bedeutung unterwegs verlorenging. Der Fluß schien eine Kälte auszustrahlen, die sogar den frostigen Wind übertraf.

Die Rinde des Baumes fühlte sich hart und spröde an, als Hagen sie mit beiden Händen berührte. Bärbart stimmte im gleichen Augenblick ein leises Summen an, eine langsame, schwerfällige Melodie, die von der Menge aufgegriffen wurde. Bald schon wurde die Stille vom düsteren Singsang der Menschen verdrängt. Einen Moment lang glaubte Hagen, der Fluß stimme mit ein.

Er legte die Hände an die Holzwülste, die den Spalt wie ein Paar riesiger Lippen flankierten. Sachte steckte er den Kopf ins Innere des Stammes, den Blick dabei fest auf das andere Ende gerichtet, auf einen schmalen Ausschnitt der Menge. Dort standen, Zufall oder Vorsehung, der Pfaffe und die Gräfin. Beide beteten immer noch stumm zu ihrem Christengott, hielten fest die Augen geschlossen. Alle anderen sahen gebannt zum Baum herüber.

Auch Hagen wollte die Lider schließen, aber sie flackerten und zuckten nur, verweigerten ihm die Blindheit. Zitternd schob er die Schultern durch den Spalt. Die Öffnung war zu eng, die Rinde riß seine Haut auf. Er spürte, wie Blut über seine Oberarme rann; in der eisigen Nachtluft fühlte es sich kalt wie Eiswasser an.

Er kletterte weiter, zog die Brust hinterher. Sein Gesicht kam auf der anderen Seite schon wieder zum Vorschein. Immer mehr Holzsplitter bissen in seine Haut, bald schon war er bis zur Hüfte voller Blut. Als Bärbart schließlich nach ihm griff und ihm wie eine Amme beim Austritt aus der Baumspalte beistand, da war sein Körper tatsächlich so rot und naß wie ein Neugeborenes.

Die Zweite Geburt war vollzogen.

Hagen fühlte sich genauso kraftlos wie zuvor, nur waren jetzt zahllose Wunden hinzugekommen, winzig klein, aber schmerzhaft. Sein ganzer Körper schien in Flammen zu stehen. Seine Knie gaben nach, er sackte in Bärbarts Armen zusammen. Sogleich eilten Tilda und zwei andere Frauen herbei und hüllten ihn in Decken.

Als man ihn vorsichtig auf die Trage legte, hörte er Bärbarts leise Worte: »Die Jahre werden zeigen, ob die Heilung gelungen ist.« Dabei strich er mit der Rechten über den blutigen Rand der Spalte, senkte den Kopf, bis seine Hörner gegen die Rinde stießen.

Hagen wurde fortgetragen, zurück zur Burg. Rote Schleier schwirrten vor seinen Augen. Er wußte nicht, ob er phantasierte, als er die raunende Stimme seiner Mutter vernahm, ganz nahe an seinem Ohr:

»Weißt du, was man über die Zweite Geburt sagt, Hagen? Fällt man den Baum, der den Geheilten geboren hat, und läßt man ihn als Teil eines Schiffes zu Wasser, so entsteht daraus ein Klabautermann.« Flüstern und Wispern in seinem Schädel, eine Spirale aus Warnungen, Drohungen, ein Versprechen. »Ein Wassergeist entsteht, mein Sohn. Ein Teufel.«

Zwei Wochen vergingen, ehe Hagen sein Lager verlassen konnte, auf eigenen Füßen und ohne die Begleitung anderer. Sein erster Weg führte ihn hinaus aus dem Burgtor, die Klippe hinauf, zum Baum. Seinem Baum.

Er fragte sich, ob die Eiche etwas ähnliches dachte. Ihr Mensch.

Nein, dachte er lächelnd, Bäume denken nicht.

Aber sie gebären auch keine nackten Jungen.

Das hat sie nicht, widersprach er sich selbst. Es war nur eine Zeremonie, etwas, das man tut, um die Götter für sich einzunehmen.

So, war es das? Erinnere dich an Bärbarts Worte: Du und der Baum, ihr werdet eins sein! Das war es, was er gesagt hat. Besser, du glaubst ihm.

Eins sein! schoß es ihm durch den Kopf. Und wieder, eindringlicher: Eins sein!

Verunsichert blieb Hagen vor der Eiche stehen, in sicherem Abstand. Sein Vater hatte einen Wächter, mit Schwert und Spieß bewaffnet, am Fuß des Baumes Stellung beziehen lassen. Der Mann nickte Hagen grüßend zu, aber seine Freundlichkeit wirkte aufgesetzt. Nicht, daß er den Grund seiner Wache nicht einsah; ganz im Gegenteil, er verstand sehr wohl, was es mit der Eiche auf sich hatte. Gerade deshalb fürchtete er sie.

Hagen konnte es ihm schwerlich verübeln. Die Nähe zwischen sich selbst und dem Baum, die Bärbart heraufbeschworen hatte, mochte da sein, doch viel war von ihr nicht zu spüren. Was da vor ihm stand, groß und mit weitverästelter Krone, war nichts als ein knorriger Baum, sehr viel älter als er selbst, und das Dämonische, das von ihm auszugehen schien, mochte nicht mehr sein als die Furcht der Jugend vor dem Alter.

Unterhalb der Klippe brauste immer noch das Hochwasser vorüber, es hatte während der vergangenen Tage kaum nachgelassen. Die Alten raunten sich in den Fluren der Burg zu, dies sei die längste Flut, von der sie je gehört hätten.

Der Wächter machte zwei Schritte auf Hagen zu. »Ich erwarte Euch am Fuß der Klippe, Herr.«

Hagen runzelte verwundert die Stirn. »Warum bleibst du nicht?«

»Der Weise Bärbart trug mir auf, Euch, wann immer Ihr mögt, mit dem Baum alleinzulassen. Er sagte, es gäbe vielleicht Dinge, die Ihr mit ihm... besprechen müßtet.« Unruhe glomm wie ein Funke in den Augen des Mannes.