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»Besprechen?« wiederholte Hagen.

»Das war das Wort, das Bärbart gebrauchte.« Der Mann deutete eine Verbeugung an. »Wenn Ihr also erlaubt...« Und damit war er bereits an Hagen vorbei und eilte den Hang hinunter. Vom Ödland der abgeholzten Bäume trat er in den Schatten des Waldes und verschwand darin. Jenseits der Wipfel kauerte die Burg auf ihrem Bergrücken wie ein kraftloser Riese aus Stein.

Hagen sann nicht länger über das merkwürdige Verhalten des Postens nach. Statt dessen trat er einige Schritte vor. Als er jene Stelle erreichte, an der während der Zeremonie seine Mutter mit dem Pfaffen gestanden hatte, fiel sein Blick geradewegs auf den Spalt. Die Sonne schien grell, und der Himmel war von strahlendem Blau; das hätte er auch jenseits der Öffnung sein müssen.

Doch der Spalt war schwarz. Ein finsteres, pupillenloses Auge, das Hagen starr entgegenglotzte.

Er begann zu frösteln, spürte, wie sein Atem schneller ging.

Die Öffnung blieb schwarz. Etwas verdeckte sie von der anderen Seite.

Hagen keuchte auf, als ihn die Erkenntnis traf.

Jemand stand hinter dem Baum!

»Wer ist da?« fragte er leise, in einer Tonlage, die das Kind in ihm verriet. Er hätte sich herumwerfen und fliehen können, aber was hätte dann der Wächter von ihm gedacht?

Vielleicht spielte ihm jemand einen Streich.

»Dankwart? Bist du das?«

Der Gedanke schien ihm einleuchtend, und er faßte neuen Mut. Langsam machte er zwei, drei Schritte auf den Baum zu. Wenn es wirklich sein Bruder war, der sich hinter dem Stamm verbarg, dann würde er ihm die frechen Scherze austreiben.

Nichts rührte sich. Der Baum stand hoch und ehrfurchtgebietend vor ihm, breit genug, um zwei Männern gleichzeitig Schutz zu bieten. Als Hagen nach oben schaute, bemerkte er, daß er bereits unterhalb der äußeren Äste stand, so weit fächerten sie hinaus in den Himmel. Als wollte der Baum das ganze Firmament umkrallen.

»Dankwart?« fragte er noch einmal, kühner als zuvor.

Im Kampf gegen seinen Widerwillen machte er schwerfällig Schritt um Schritt. Noch drei Mannslängen, dann würde er den Stamm erreicht haben. Die Schatten der Äste legten sich verzerrt über sein Gesicht wie Kerkergitter.

Sein Bruder - wenn er es denn war - gab keine Antwort. Auch sonst regte sich nichts. Kein Rascheln, keine sichtbare Bewegung.

Wieder pfiff der Wind über die Felskante. Kalt, so kalt. Etwas regte sich in Hagens Erinnerung, wie ein Tier, das sich im Winterschlaf wälzt.

»Das ist nicht lustig«, brachte er schwach hervor. Sein Mut schwand schon wieder, und an seine Stelle trat... Zorn? Oder eher ein Anflug von Panik?

Er hatte es vermieden, noch einmal in den Spalt zu blicken, in der Befürchtung, sein Geist könne ihm einen Streich gespielt, ihn schlichtweg getäuscht haben. Doch als er nun erneut durch die Öffnung schaute, war die Finsternis immer noch da. Dort, wo ein feigenförmiger Splitter des Himmelsblau hätte sein müssen, war nichts als tiefe Schwärze. Was aus der Ferne noch wie ein Auge gewirkt hatte, erschien ihm jetzt als langgestrecktes Maul. Die hölzernen Lippenwülste rechts und links der Öffnung waren immer noch von seinem getrockneten Blut bedeckt. Es hatte sogar dem Regen widerstanden, fast als hätte die Rinde es aufgesogen.

Der Wind aus der Tiefe wimmerte leise. Er trug das Flüstern des Flusses herauf.

Ganz langsam, zögerlich, trat Hagen nach rechts. Erst nur einen Schritt, dann einen zweiten. Ahnungsvoll machte er sich daran, den Baum zu umrunden.

Und wenn der andere es nun genauso machte? Sie würden sich im Kreis drehen, den Stamm immer zwischen ihnen. Hagen würde sich dem Klippenrand nähern, kaum zwei Schritte hinter dem Baum. Dort wartete der Abgrund auf ihn, an seinem Grund der Fluß und in dessen Tiefe -

Nein! kreischte es in ihm. Tu das nicht! Geh nicht weiter, bleib stehen!

Er machte noch einen Schritt, dann noch einen, unendlich langsam. Näherte sich der Felskante und der Rückseite des Baumes. Legte den Kopf schräg, um besser dahinterschauen zu können.

Der schmale Streifen zwischen Stamm und Kante war leer. Niemand war da. Wurzelstränge ragten aus dem Boden wie Beine einer zertretenen Riesenspinne.

»Ist da wer?« fragte er wieder. Er schluckte, aber der Knoten in seinem Hals wollte nicht weichen.

Hagen überlegte fieberhaft. Er mußte einmal um den Baum herumgehen, um wirklich sicher sein zu können. Aber immer noch war ihm der Gedanke, so nahe an den Abgrund zu treten, zuwider. Falls ihm der andere, der sich hinter dem Stamm verbarg, Böses wollte, würde es ihm ein leichtes sein, Hagen in die Tiefe zu stoßen.

Zaghaft trat er um die vordere, dem Wald zugewandte Seite, horchte angestrengt auf Kleiderrascheln oder andere verräterische Laute. Sein Atem rasselte in seinen Ohren. Hätte er nicht auch das Atmen des anderen hören müssen?

Was, wenn der andere gar nicht zu atmen braucht?

Unsinn. Das sind Ammenmärchen.

Aber du hast es doch gefühlt, unten im Fluß. Du weiß, daß da etwas war. Etwas, das im Fluß lebt, muß nicht atmen...

Hagen schüttelte sich. Ein eisiger Schauder lief ihm über den Rücken. Es kostete ihn einige Überwindung, überhaupt weiterzugehen. War es nicht gleichgültig, was der Wächter von ihm dachte?

Nein, er war des Grafen Sohn! Keine Wahnvorstellung würde ihn in die Flucht schlagen.

Nur ein Alptraum, hämmerte er sich ein.

Er war jetzt völlig sicher, daß es nicht Dankwart war, der seine Späße mit ihm trieb. Das hier war etwas ganz anderes.

Hagen stand nun an der Vorderseite, genau vor dem Spalt. Widerwillig senkte er den Kopf, um noch einmal hindurchzuschauen.

Die Schwärze war unverändert. Seine schale Hoffnung, jemand habe vielleicht etwas in die Öffnung gestopft, schwand dahin. Und noch etwas begriff er: Die Spalte wurde gar nicht von der anderen Seite versperrt.

Hagen war ganz allein am Baum. Da war niemand, der sich vor ihm versteckte.

Jetzt erkannte er, woraus die Schwärze in Wahrheit bestand.

Es war die Nacht.

Ein Stück des dunklen Nachthimmels hatte sich in der Spalte verfangen. Hagen konnte jetzt sogar Sterne erkennen, und wenn er seine Position ein wenig änderte, dann sah er durch die Öffnung das andere Ufer, düster und schlummernd im Mondenschein.

Mit einem Ruck riß er den Kopf zurück, schaute um den Stamm herum. Er sah das Ufer jenseits des Flusses, rotgelbe Wälder im Licht der Herbstsonne.

Noch ein Blick durch den Spalt. Dahinter herrschte abermals Finsternis.

Soviel Dunkelheit in jeder Nacht, daß sie nicht von einem Tag auf den anderen aufgebraucht wird; irgendwohin muß der Rest verschwinden. Warum nicht in diesen Baum?

Einen Moment lang schien das fast vernünftig.

Hagen taumelte zurück, stolperte, landete auf dem Boden.

Was, bei allen Göttern, war das?

Er rappelte sich auf, trat noch einmal näher an den Baum. Ganz langsam hob er die rechte Hand, überlegte, ob er sie in den Spalt stecken sollte. Widerwillig berührte er die hölzernen Lippenwülste. Es war viel kälter im Inneren des Baumes; mit der Dunkelheit hatte sich auch die Frische der Nachtluft im Eichenstamm eingenistet.

Wieder machte er sich daran, den Baum zu umrunden, und diesmal zögerte er nicht, sich in die Nähe des Abgrundes zu wagen. Es war niemand da, der ihn hinabstoßen konnte. Niemand, außer ihm selbst.

Die Rückseite der Eiche war in Sonnenschein gebadet. Hagen bückte sich, blickte nun von der anderen Seite durch den Spalt. Von hier aus hätte er den Waldrand sehen müssen, davor das Feld der Baumstümpfe.

Aber er sah Fackeln. Züngelndes, zuckendes Fackellicht. Eine Menschenmenge unter dem Nachthimmel. Und davor seine Mutter und der Priester, beide betend, die Augen geschlossen.

Es war das gleiche Bild, das er gesehen hatte, als er vor zwei Wochen zum ersten Mal durch den Stamm geschaut hatte, unmittelbar bevor er hindurchgekrochen war.